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Ira Peter auf der Potemkinschen Treppe in Odessa.

© Edwinn Bill

Odessas ehemalige Stadtschreiberin: „Keine Kinder mehr auf den Straßen“

Ira Peter berichtet im PNN-Gespräch wie Freunde in der Ukraine den Krieg erleben - und wie sich auch von hier aus helfen lässt. 

Frau Peter, von Juni bis Oktober 2021 bloggten Sie als Stipendiatin und Stadtschreiberin aus Odessa. Ihre Großeltern stammen aus der Ukraine. War Ihr Aufenthalt auch eine Art Heimkehr?
Das kann man tatsächlich so beschreiben. Ich war 2018 das erste Mal in der Ukraine und hatte sofort das Gefühl, dass das kein fremdes Land für mich ist. Vieles kam mir bekannt vor. Das lag zum einen an der Architektur, an der Art und Weise, wie die Holzhäuser gebaut sind – so sahen die Häuser in dem Dorf in Kasachstan aus, in dem meine Großeltern gelebt haben. Auch die Sprache klang vertraut, obwohl ich nicht mit dem Ukrainischen aufgewachsen bin. Im Grunde hat sich dieses Gefühl fortgesetzt, als ich nach Odessa kam. Odessa ist ein ganz anderes Universum, eine quirlige Stadt. Es war eine Art neue Heimat für mich. Vom ersten Tag an.

Als Russlands Präsident Putin den Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, waren Sie wieder zurück in Deutschland. Sie schrieben: „Ich spüre immer wieder den Impuls losfahren zu müssen und dort zu sein.“ Sind Sie dem Impuls gefolgt?
Das kann ich meiner Familie nicht antun. Wenn ich keine Menschen hätte, denen ich mich verbunden fühle und für die ich Verantwortung trage, wäre ich tatsächlich in der Ukraine. Dann würde ich vor Ort helfen. Es ist schwierig für mich, hier zu sein. Sobald das wieder geht, hoffe ich, dass ich beim Wiederaufbau helfen kann. Sobald der Krieg vorbei ist, wird das meine erste Handlung sein: Ich werde nach Odessa fahren.

Journalistin Ira Peter.
Journalistin Ira Peter.

© Edwin Bill

Am 24. Februar trafen Sie die Entscheidung, den Blog wieder aufzunehmen. War es das Einzige, was Ihnen von Deutschland aus zu tun blieb?
Ich kann ja einiges von hier aus machen. Ich unterstütze eine Stiftung aus Heidelberg, mit der ich gemeinsam Medikamentenlieferungen nach Odessa organisiere. Ich bin mit Ärzten in Kontakt, frage, was sie brauchen, übersetze Listen. Vorgestern ist der dritte Transport losgefahren. Aber der Blog ist für mich der Hebel, mit dem ich selbst etwas tun kann. Ich setze mich hin, telefoniere mit meinen Freunden, transkribiere das – und verbinde es immer mit einem Spendenaufruf. Gleich beim ersten Mal hatte der Interviewte so viel erhalten, dass er selbst eine kleine Organisation gegründet hat und die Spenden jetzt dafür verwendet, Lebensmittel für alte Menschen vor Ort zu kaufen.

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Sie bezeichnen sich als Pazifistin, haben aber als eine von 156 Unterzeichnerinnen in einem offenen Brief an die Bundesregierung schwere Waffen gefordert. Wie gehen Sie mit diesem Konflikt um?
Als Pazifistin bin ich gegen Waffenlieferungen und Gewalt. Ich bin für eine weibliche Außenpolitik, die mehr auf Frieden als auf Waffengewalt setzt. Auf der anderen Seite verstehe ich die Ukrainer, die diesen Krieg für uns führen und diese Waffen brauchen. In dieser verfahrenen Situation können wir mit Diplomatie dieses Land vielleicht nicht mehr retten – weil wir mit jemandem verhandeln, der nicht rational handelt. Ich wünschte, man fände sofort eine Lösung und würde die Waffen niederlegen. Jede Sekunde, die der Krieg andauert, ist zu viel. Aber in der jetzigen Situation müssen wir die Ukraine unterstützen, auch wenn es mir Bauchschmerzen bereitet und gegen meine persönliche Überzeugung geht. Ich sehe keine andere Lösung, außer dass ich mir wünsche, dass der zivile Widerstand in der Ukraine aktiv bleibt und wir diesen ebenfalls unterstützen. Andernfalls ist es so, als hätte man damals Hitler weiter morden lassen.

Ira Peter vor dem Opernhaus in der Hafenstadt.
Ira Peter vor dem Opernhaus in der Hafenstadt.

© Edwin Bill

Die Brüche der europäischen Geschichte haben Ihre Familie geprägt. Ihre Großeltern sind in den 1930er-Jahren aus der Ukraine nach Nordkasachstan deportiert worden.
Meine Großeltern lebten damals sehr nah an der Grenze zwischen der Sowjetunion und Polen – da ist ein ganzer Streifen deportiert worden, alles, was irgendwie ausländisch war, auch viele polnische Menschen. Die meisten Russlanddeutschen sind aber 1941 deportiert worden, als Russland in den Krieg gegen Hitler eingetreten ist.

Ihren Blog kann man als Appell für ein universelleres Verständnis von Herkunft und Heimat lesen – jenseits von Nationalitäten.
Das ist mein Ziel. Auch schon seit vielen Jahren. Ich versuche anhand meiner Arbeit zu Russlanddeutschen aufzuzeigen, wie Diktaturen an die Macht kommen und dann wirken. Meine Geschichte ist sehr eng verbunden mit den Diktaturen unter Hitler und Stalin, unter beiden haben Russlanddeutsche auf beiden Seiten gelitten. Das Traurige ist, dass es niemanden interessiert hat, bis der Krieg in der Ukraine ausbrach. Es herrscht viel Ignoranz. Das will ich gar nicht verurteilen, wir sind vielleicht alle ignorant und sehen immer nur bis zur Landesgrenze. Aber der Krieg zeigt uns: Niemand ist isoliert. Früher oder später geht der Krieg uns alle an. Er greift die Grundwerte von uns allen an. Odessa wird mehr und mehr Teil des Kriegsgeschehens. Vor einigen Tagen war von Angriffen und Toten zu lesen.

Was berichten Ihre Freunde von dort?
Gerade habe ich mit einer Freundin gechattet, die in Owidiopol lebt, 40 Kilometer von Odessa entfernt. Sie erzählte, dass die ganze Zeit über Luftalarm herrscht. Der Ort liegt nahe an der Grenze der Republik Moldau. Sie hat von vielen Militärtransporten berichtet. Sie schreibt aber auch, dass ihre Angst weniger geworden ist. Ihre Kinder sind jetzt Gott sei Dank in Dresden. Es gibt da eine Art der Gewöhnung an den Krieg. Eine Freundin in Odessa berichtet auch von täglichem Luftalarm – ich höre ihn, wenn wir telefonieren. In Odessa beobachtet sie auch, dass es keine Kinder mehr auf den Straßen gibt. Nur noch alte Menschen. Wenn es Kinder gibt, dann sind es Binnenflüchtlinge. Die Menschen halten sich wirklich wacker, aber sie müssen nervlich wirklich am Ende sein.

„Odessas Herz muss weiterschlagen“, heißt jetzt die Benefizveranstaltung im Potsdam Museum. Wie sieht dieses Herz für Sie aus?
Odessas Herz schlägt sehr schnell. Niemand läuft langsam, alle rennen immer in Odessa. Es ist eine sehr heiße Stadt, im Sommer ist die Luftfeuchtigkeit hoch. Es ist auch sehr staubig, weil Odessa in einer Steppenregion liegt. Die Odessiten sind Lebemenschen. Eine Freundin in Odessa sagte immer: Der Süden frisst einen auf. Er packt einen. Die Odessiten sind wahnsinnig offen und herzlich. Sie sind sehr humorvoll, machen sich über alles lustig, nehmen wenig ernst. Auch jetzt in Kriegszeiten ist das so. Sie möchten nicht, dass ihnen das jemand wegnimmt.

Was, meinen Sie, können solche Veranstaltungen denn bewirken? In Potsdam sprach ein Organisator von einem „Resonanzraum für die eigenen Ohnmachtsgefühle“.
Ich sehe das anders. Ich habe an vielen Veranstaltungen teilgenommen – Lesungen, Podien, Online-Events. Das ist nichts, um nur gegen die eigenen Ohnmachtsgefühle anzugehen. Zum einen sammeln wir immer Spenden für den Kauf von Medikamenten. Das ist eine konkrete, direkte Hilfe. Auf der anderen Seite ist es wichtig, dass wir uns hier nicht an den Krieg gewöhnen. Im Potsdam Museum wird jemand aus Odessa zugeschaltet sein, der authentisch berichtet, was dort passiert. Ich kann mir vorstellen, dass manche Menschen schon müde werden angesichts all der Benefizveranstaltungen. Aber wir müssen dranbleiben. Ich fürchte, der Krieg wird uns noch lange begleiten.

Das Gespräch führte Lena Schneider

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