Von Jana Haase: Lichtermeer für die Toten
Am gestrigen „Tag des Flüchtlings“ versammelten sich 100 Potsdamer an der Glienicker Brücke
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Berliner Vorstadt - 1861 Kerzen für 1861 Tote: So viele Menschen sind laut der Zählung des Internet-Blogs „Fortress europe“ – Festung Europa – im vergangenen Jahr auf dem Weg in die Europäische Union umgekommen: in Containern von Lastschiffen, unter Zügen im Ärmelkanal-Tunnel, in Schlauchbooten auf dem Mittelmeer oder in den Gebirgen im Grenzgebiet zwischen Griechenland und der Türkei. Für jeden der gestorbenen Flüchtlinge wurde gestern Abend an der Glienicker Brücke eine Kerze entzündet. Am Ende leuchtete dort der Schriftzug „Stoppt das Sterben“.
Gut 100 Potsdamer waren an dem kühlen Herbstabend zur Gedenkveranstaltung anlässlich des „Tages des Flüchtlings“ gekommen – darunter auch Regisseur Andreas Dresen: „Das Thema ist mir eine Herzensangelegenheit“, erklärte er: „Ich finde, dass man an diese Menschen erinnern muss.“ Eingeladen hatten das Diakonische Werk Potsdam, die Ausländerseelsorge des Kirchenkreises Potsdam, der Flüchtlingsrat Brandenburg, der Verein „Borderline-Europe“ Menschenrechte ohne Grenzen und Magdolna Grasnick, die Ausländerbeauftragte der Landeshauptstadt. Bei Kerzenschein und Musik von der Gruppe Lebenslaute lasen die Gäste an der Glienicker Brücke unter anderem aus den Erinnerungen und Erfahrungsberichten von Flüchtlingen.
Es ist nur ein Zufall, dass der Tag des Flüchtlings in diesem Jahr mit dem Tag der Deutschen Einheit zusammenfällt. Für Elias Bierdel, den ehemaligen Leiter Hilfsorganisation Komitee Cap Anamur und Mitgründer des in Potsdam ansässigen Menschenrechtsvereins Borderline-Europe, gab das Zusammentreffen Anlass, eine historische Parallele zu ziehen: „Der unmenschliche eiserne Vorhang, der Europa teilte, ist nicht verschwunden, er wurde nur umgeschneidert“, sagte Bierdel an der Glienicker Brücke und verglich die Sperranlagen der „Festung Europa“ mit denen der deutsch-deutschen Grenze. An beiden Grenzen seien Menschen ums Leben gekommen, „die ein Leben in Freiheit und Würde suchten“, sagte Bierdel und forderte ein Ende der „Politik der Abschottung mit tödlichen Folgen“. Der ehemalige Cap-Anamur-Chef muss sich momentan vor einem italienischen Gericht verantworten, weil er im Sommer 2004 vor der italienischen Küste 37 afrikanische Flüchtlinge an Bord der „Cap Anamur“ nahm. Im schlimmsten Fall drohen ihm und dem damaligen Kapitän Stefan Schmidt, der gestern auch mit an der Glienicker Brücke war, zwölf Jahre Haft wegen „Schlepperei“. Das harte Vorgehen handele der „Abschreckung“, glaubt Bierdel.
„Verantwortung lässt sich nicht abschieben“, sagte Ausländerseelsorgerin Monique Tinney und forderte zur Einhaltung der Menschenrechte auf. Mit dem Schengenabkommen der EU-Länder, das 1985 unterzeichnet wurde und in Deutschland zehn Jahre später in Kraft trat, wäre „die Freiheit nach innen“ um den Preis von Menschenleben an den Außengrenzen erreicht worden, kritisierte Tinney.
Die Auswirkungen des Schengenabkommens sind unterdessen auch in Potsdam spürbar: Während sich Potsdamer seit 1995 ohne Pass durch die EU bewegen können, hat die Zahl der Flüchtlinge aus Nicht-EU-Staaten in der Landeshauptstadt seitdem drastisch abgenommen, wie die Ausländerbeauftragte Magdolna Grasnick vorrechnet: Lebten im Jahr 1993 noch 1100 Asylbewerber in der Stadt, sind es heute laut Grasnick nur noch etwa 90. Im vergangenen Jahr seien 30 Flüchtlinge nach Potsdam gekommen.
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