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Wissenschaftsjahr „Digitale Gesellschaft“: E-Petition, Bürgerhaushalt oder Netzprotest – die digitale Welt verändert Politik und Gesellschaft. Henrik Scheller von der Uni Potsdam erforscht das Thema
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Es war ein politischer Aufstand, den es ohne Facebook und Twitter, ohne Smartphones und Notebooks wohl nicht gegeben hätte: Im Dezember 2010 erhob sich die Jugend in der arabischen Welt, um gegen autoritäre Regime, Armut, Polizeigewalt und Korruption zu protestieren. Tausende gingen auf die Straße, stellten Videos von prügelnden Polizisten oder Fotos von Demonstrationszügen ins Netz. Soziale Netzwerke wurden zur Informationsquelle – und zur Organisationsplattform für die Proteste, die meist von jungen, gut ausgebildeten Städtern ausgingen. „Oft wird der Arabische Frühling als Twitter- oder Facebook-Revolution bezeichnet“, sagt Henrik Scheller, Politikwissenschaftler an der Universität Potsdam. Zunehmend beobachten er und seine Kollegen, dass Bürger Politik über das Internet konkret beeinflussen. Der Arabische Frühling ist dafür ein sehr eindrückliches Beispiel, wenn auch nur eines von vielen. Welchen Einfluss die neuen Medien auf die politische Sphäre haben, zeigte erst jüngst die Twitter-Sperre in der Türkei: Zu groß war offenbar die Sorge der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, dass das Nachrichtenmedium für alle einen Einfluss auf die Regionalwahlen haben könnte.
Die digitale Welt gehört längst zu unserem alltäglichen Leben. 76 Prozent aller Deutschen über 14 Jahre nutzten im Jahr 2013 das Internet. Wir kommunizieren mit Freunden in sozialen Netzwerken, schreiben private und berufliche E-Mails oder informieren uns im Netz über die neuesten Nachrichten. Doch die sogenannten Neuen Medien verändern nicht nur unseren persönlichen Lebensstil, sondern stoßen auch in Politik und Gesellschaft einen Wandel an und eröffnen neue Teilhabemöglichkeiten. Von „E-Democracy“ – der „elektronischen Demokratie“ – sprechen Experten. „Medien sind dabei vor allem das Instrument, um Aktionen zu organisieren“, betont Henrik Scheller.
Und dieses Instrument hat es in sich. Mit den neuen technischen Möglichkeiten können Menschen in Windeseile mobilisiert werden, Informationen sind in Echtzeit abrufbar. Von „Aufschaukelungseffekten“ und „kreisenden Erregungen“ spricht Scheller, wenn sich Themen rasend schnell im Netz ausbreiten. Das Internet stelle ein Netz kommunizierender Netzwerke dar: Informationen, die in einem persönlichen Netzwerk eines Nutzers kommuniziert werden, springen dabei über in die unzähligen Netzwerke seiner Freunde und Follower. Inhalte werden dabei tausendfach kopiert, neu zusammengestellt und weiterverbreitet. So organisierten etwa Studierende im Herbst 2009 unter der Überschrift „Uni brennt“ Proteste gegen die EU-Bildungspolitik. Von Österreich ausgehend schwappte die Protestwelle rasch auf Deutschland und andere europäische Länder über – getragen durch die sozialen Netzwerke.
Die E-Petition ist ein weiterer Baustein in der neuen digital-politischen Welt. Seit 2005 kann jeder Bürger diese beim Deutschen Bundestag über ein Internetformular einreichen und damit sein Anliegen schnell und unkompliziert öffentlich machen. „Das bedeutet eine Vereinfachung für den Petenten und die Mitzeichner“, so Scheller. Einige dieser E-Petitionen waren extrem erfolgreich. „Am eindrucksvollsten war die sogenannte Zensursula-Kampagne, in der es darum ging, kinderpornografische Seiten im Internet zu sperren“, erklärt Scheller. Bereits nach vier Tagen hatte die Petition über 50 000 Unterstützer und Petentin Franziska Heine damit das Recht auf eine öffentliche Anhörung im Petitionsausschuss. Die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen scheiterte daraufhin mit ihrem Vorschlag, Internetsperren einzuführen.
Und auch in umgekehrter Richtung funktioniert die Mobilisierung über digitale Medien: Die Politik selbst nutzt sie, um Partizipation anzuregen. Über Bürgerhaushalte können Bürger etwa mitentscheiden, wie ihre Kommune öffentliche Gelder verwendet. Viele Menschen beteiligen sich online an den Abstimmungsverfahren. Dies ist jedoch nicht unproblematisch. „Der Aufwand, den die Verwaltung für Organisation und Durchführung dieser Tools benötigt, steht nur bedingt im Verhältnis zu den Ergebnissen, die dort erzielt werden“, so Scheller. Denn die Beteiligung ist meist gering und repräsentiert nicht unbedingt den Durchschnitt der Bevölkerung: „Wir stellen fest, dass sich eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen beteiligt: männlich, besser situiert, über 40“, fasst Scheller zusammen. Damit wird ein grundlegendes Problem deutlich: Im Netz erfolgreich sind bisher vor allem jene Themen, die technikaffine und über soziale Medien gut vernetzte Menschen wichtig finden.
Heike Kampe
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