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Prof. H.-D. Schmidt kritisierte im „Potsdamer Gespräch“ das Kinderbild der Bildungsoffensive der Bundesregierung
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Prof. H.-D. Schmidt kritisierte im „Potsdamer Gespräch“ das Kinderbild der Bildungsoffensive der Bundesregierung Seltsam, dass Marx und Engels nie Herder gelesen haben, meint der emeritierte Prof. für Entwicklungspsychologie Hans-Dieter Schmidt. Ihn selbst hat der Kulturphilosoph geprägt. Herders Philosophie zur Geschichte der Menschheit, sein Kindheitsbild, seine Reisebeschreibungen von Riga. Noch heute zieht der Wissenschaftler in Gedanken den Hut vor Herder. Man sieht es ihm an, als er zum Potsdamer Gespräch mit Brandenburgs Bildungsminsiter Steffen Reiche (SPD) in der Landeszentrale für Politische Bildung hinter dem Podiumstisch sitzt und über sein Leben, über Pädagogik in der DDR und die Bildungsoffensive spricht. Aus Sicht der älteren Generation, die sich nicht zum ersten Mal mit einer Bildungsreform befasst. Kinder kommen zu kurz Hans-Dieter Schmidt hört ein Publikum zu, das ihm schon bei seinen Vorlesungen in Jena und an der Humboldt Universität Berlin zugehört haben könnte und sicher auch in seinem DDR-Bestseller „Entwicklungswunder Mensch“ geblättert hat. Man kennt sich. Schmidt beginnt mit einer Kritik an der Bildungspolitik der Regierung: „Bei Ihrer Bildungsoffensive kommen die Kinder zu kurz“, sagt er. Kinder seien keine kleinen, defizitären Erwachsenen, die man mit pädagogischen Mitteln angleichen müsse. Das Kind hat einen Eigenwert, von ihm selbst muss jede Bildung ausgehen, meint der Professor. Und scheint sich zu wundern, dass er nach mehr als 80 Jahren Reformpädagogik immer wieder die gleichen Ideale aus der Schublade ziehen muss. Der Professor spricht von Peter Petersen, dem Wegbereiter der Gesamtschule, der im Jena-Plan dafür plädierte, jüngere und ältere Kinder gemeinsam zu unterrichten. Von der schon 1908 geforderte Arbeitsschule mit ihrer Maxime, Selbstständigkeit durch Selbsttätigkeit zu erreichen. Es ging darum, die schöpferischen Kräfte des Kindes zu wecken, Mädchen und Jungen sollten lernen, Probleme zu lösen und sich ein eigenes Urteil zu bilden, erklärt der Professor und fragt sich, warum die heutige Schule so wenige der Ideen von damals übernommen hat. Schmidts Inspirationsquelle für die „neue“ Schule war die Zeitschrift „Pädagogik“. Hier hat er reformpädagogische Ideen gefunden, die er in der Nachkriegszeit als Schulhelfer, dann als Neulehrer in einer kleinen Dorfschule in Brandenburg, umzusetzen versuchte. Sein Schuldirektor war tolerant, so konnte er zum Beispiel Gruppenunterricht geben. Seine Kinder trugen Schlappen, damit das laute Klappern der Holzbeine, einem Erbe des Krieges, auf den Dielen gedämpft wurde. Neben der Lehrerrolle gab er den „Kulturoffizier“, Schmidt gründete einen Schachclub für Erwachsene, organisierte Theateraufführungen und Schulfeiern. DDR-Kitas verteidigt Nach drei Jahren zog es den Neulehrer an die Humboldt-Universität zu Berlin. Er studierte Unterstufenpädagogik, wechselte dann zu Psychologie – und blieb bei der Wissenschaft. Er forschte, lehrte, schrieb Bücher. In der DDR wurde er durch seine Arbeiten zur Entwicklungspsychologie bekannt. „Es gab in diesem Bereich ein Vakuum“, deutet der Autor seinen Erfolg. Nach der Wende schrieb er weiter, Schmidt rückte Anfang der 90er das im Zuge der Wende verschobene Bild von Kinderkrippen in der DDR wieder gerade. „Damals kamen DDR-Kitas und Krippen gleich nach Volksarmee und Stasi“, das ging Schmidt zu weit. Bildungsminister Reiche will von dem Experten das ideale Einstiegsalter in das Schulsystem wissen. Frühstens mit fünf Jahren sind Kinder so weit, meint Schmidt. In solchen Fragen seien Entwicklungsdiagnostiker und Psychologen gefragt, die viel zu selten in Schulprozesse einbezogen würden. Nur kurz denkt er nach, bis ihm weitere Übel gegen das Wohl von Kindern einfallen. Die Fernsehkultur, die Gefahr, dass durch das Fernsehbild die Entwicklung des Kindes deformiert wird, das seine Fähigkeit zu Fragen verarme. Reiches Frage nach einem Persönlichkeitsbild als Bildungsziel findet Schmidt „gefährlich“. Allein von sich selbst kann er ausgehen, wenn er beschreiben soll, welche Fähigkeiten er im Leben entscheidend findet, antwortet Schmidt diplomatisch. Für ihn sind ein waches, kritisches Bewusstsein und die Zuversicht, alles irgendwie hinzubekommen, wichtig. Und wenn etwas einmal nicht klappt, sollte man seine Ziele neu definieren können, gibt der Psychologe dem Publikum mit auf den Weg. Marion Hartig
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