Homepage: „Unglaubliche Umwälzungen“
Klimawandel bringt südliche Insekten, Tiere und Pflanzen nach Norden / Biologe sieht rasanten Verlauf
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An seine erste Begegnung mit dem Dornfinger kann sich Prof. Matthias Freude noch gut erinnern. Vor rund 20 Jahren hat er die grünbraune, rund 15 Millimeter große Spinne mit rotem Kopf im Potsdamer Umland zum ersten Mal fotografiert. Woran sie bei dem Gliederfüßer waren, wussten sie schnell, als Freudes Kollege gebissen wurde. Der Dornfinger ist eine Giftspinne, deren Bisse die Gefährlichkeit von Hornissenstichen haben. Damals war die Spinne noch eine extreme Seltenheit in der Region. Heute ist sie häufig im Potsdamer Umland anzutreffen. Die aus dem Mittelmeerraum stammende Spinne fühlt sich bei uns durch die wärmer gewordenen, trockenen Sommer auf Feldern und Wiesen sehr wohl.
Dass das Phänomen der Ausbreitung von südlichen Insekten, Vögeln, Tieren und Pflanzen bei uns im Zusammenhang mit dem Klimawandel steht, ist für den Präsidenten des Landesumweltamtes Brandenburg keine Frage. Der Dornfinger sei dabei nur ein Beispiel, das unlängst durch mehrere gebissenen Personen in Berlin und Österreich für Aufsehen gesorgt hat.
Freude, der auch an der Potsdamer Uni Vorlesungen zu Zoologie und Ökologie hält, hat zahllose andere Beispiele. Etwa die Libellen. Heute gibt es schon über 70 Arten in Brandenburg, mindestens ein Dutzend davon sei erst in jüngster Zeit bei uns eingewandert. Etwa die Feuerlibelle, die aus Südeuropa, Afrika und Westasien stammt. Das knallrote Männchen ist kaum zu übersehen. „Sieht aus wie ein Feuerwehrauto“, scherzt der Biologe.
Matthias Freude findet kaum ein Ende in der Aufzählung von neuen Bewohnern unserer Region. So der Goldgelbe Laufkäfer: „Vor 20 Jahren bei uns noch unbekannt, nun läuft er über jeden Acker“. Oder die Schmetterlinge: „Der Segelfalter, vor zehn Jahren noch eine große Seltenheit in Brandenburg, jetzt knabbert er in den Vorgärten um Cottbus die Pfirsichbäume an.“ Gerade die ehemaligen Braunkohletagebaugebiete in der Lausitz würden für viele Insekten aus dem Süden mit ihrem trockenen und „sonnendurchglühten“ Klima ein neues Zuhause bieten. Auch die Heuschrecken fühlen sich bei Wärme wohl. Neu ist bei uns seit kurzem etwa die Italienische Schönschrecke. Sie zählt zur Familie der Knarrschrecken, deren fein-knisternde Töne nur in allernächster Nähe wahrnehmbar sind. Zu ihren Charakteristika zählt, dass sie sehr auf Wärme und Trockenheit angewiesen ist und an sandigen Stellen lebt. In der märkischen Streusandbüchse dürfte sie sich also im Sommer äußerst heimisch fühlen.
In den meisten Fällen kommen die Insekten aus Südosteuropa zu uns, etwa vom Schwarzen Meer, Bulgarien aber auch vom Kaspischen Meer und aus der südsibirischen Steppe. Meistens fliegen sie bis in den Norden, oft werden sie auch von Winden getragen. Kriechtiere reisen mitunter sogar unbemerkt in Autos, Zügen und LKWs. Wenn sie dann das passende Klima und die nötige Nahrung vorfinden, bleiben sie und vermehren sich. Unsere harten Winter stören die meisten der Neulinge kaum, da ihre Eier durch kontinuierlichen Frost nicht geschädigt werden. Und so lange die „Einwanderer“ noch neu in einer Region sind, haben sie meist auch kaum natürliche Feinde.
Im Jahr 2001 hat Prof. Freude mit seinen Kollegen zum ersten Mal die Violette Rainfarneule, einen Falter aus südöstlichen Steppenlandschaften in Brandenburg beobachtet. Heute schon hat sich der Falter in der ganzen Mark ausgebreitet. Eines der auffälligsten Merkmale des gegenwärtigen Wandels ist seine Geschwindigkeit. „Zurzeit beobachten wir unglaubliche Umwälzungen bei Flora und Fauna, die sehr schnell vonstatten gehen“, erklärt Freude. Seien es die ein bis zwei Wochen verfrühten Vegetations- und Blühperioden der Pflanzen oder das Einwandern von südlichen Schädlingen wie dem Maiszünsler, der die Maisfelder bedroht. Bislang war der Falter nur bis ins nördliche Hessen und südliche Thüringen anzutreffen. Seit zwei Jahren haben sich in Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen und in Brandenburg (Oderbruch) einzelne Befallsinseln zu mehr oder weniger geschlossenen Räumen ausgewachsen.
Mögen sich die Klimaforscher über Ursachen der Klimaerwärmung noch streiten. Ihre Auswirkungen schlagen sich für den Biologen Freude in seiner täglichen Arbeit nieder. „Die eingewanderten Tiere, Insekten und Pflanzen halten sich längst an die neuen Rahmenbedingungen“. Temperaturaufzeichnungen untermauern die Umwälzunge: Für den Zeitraum Juni bis August zeigt etwa die Sommertemperatur der vergangenen 100 Jahre in Angermünde ein Plus von 3,7 Grad. Der Klimawandel verlaufe in einem so rasanten Tempo, dass Freude schon heimische Arten wie die Buche auf der Strecke bleiben sieht. „Da sie sich nur sehr langsam verbreitet, könnte es sein, dass sie dem Klimawandel nicht hinter her kommt.“ Andere Arten weichen nach Norden aus oder werden von den Änderungen überrascht. Etwa der Kuckuck: Wenn er aus seinem Winterdomizil in Südafrika zurückkehrt, kann es vorkommen, dass bei uns die Vögel mit der Brut schon fertig sind. Dann findet er kein Nest mehr für seine Kuckuckseier.
Matthias Freude kennt die Bedingungen in Brandenburg gut. Er war einer der Begründer des Nationalparkprogramms der DDR, auf dem 1990 das Brandenburgische Konzept der Großschutzgebiete aufbaute. Wenn in der Mark ein Goldschakal auftaucht, wie vor einigen Jahren in der Lausitz, dann weiß Freude es als erster. In seinem Dienstzimmer findet sich auch ein Maikäfer, der vor einigen Jahren an einem 28. Januar in Potsdam geschlüpft war. Die Ergebnisse der Klimastudie des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) für Brandenburg lassen den Wissenschaftler aber nicht nur von bunten Libellen und seltenen Faltern schwärmen. Wenn die Minimaltemperaturen in den Sommern länger über 15 Grad bleiben (auch nachts), könnte sogar die Malaria bei uns wieder eine Chance bekommen.
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