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Vier Tote im Potsdamer Oberlinhaus: Behindertenverband: Mitarbeiter in Pflege-Wohnheimen nicht überlasten
Getötete wiesen schwere Schnittverletzungen an der Kehle auf + Haftrichterin sieht "dringende Gründe für eine eingeschränkte oder vollständige Schuldunfähigkeit" + Die aktuelle Lage im Überblick.
Potsdam - Das wohl schwerste Tötungsdelikt seit Jahrzehnten erschüttert Potsdam: Im Oberlinhaus in Babelsberg sind am Mittwochabend vier Menschen getötet worden. Eine weitere Person wurde schwer verletzt.
Die Polizei nahm eine 51 Jahre alte Mitarbeiterin unter dringendem Verdacht eines "vorsätzlichen Tötungsdelikts" fest. Die Tatverdächtige wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Das Motiv für die Tat ist unklar.
Der aktuelle Überblick
Nach der Gewalttat mit vier Toten in einem Potsdamer Wohnheim fordert der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland (ABiD), mehr auf die Entlastung der Mitarbeitern zu achten. „Sie sind in einer dauernden psychischen Ausnahmesituation“, sagte der Vorsitzende Marcus Graubner am Freitag. Einrichtungsleitungen müssten mehr darauf achten, dass es zu keiner Überlastung der Beschäftigten komme - weder körperlich noch psychisch. „Es muss eine Möglichkeit der Betreuung für Mitarbeiter geben, beispielsweise eine Seelsorge“, so Graubner. Unabhängig von dem Potsdamer Vorfall müsse es gerade in der Corona-Pandemie verstärkt begleitende Maßnahmen geben, um Mitarbeiter, die „Außergewöhnliches leisten“, aufzufangen. (dpa)
Staatsanwalt: Tathergang und Motiv weiter unklar
Nach dem Gewaltverbrechen im Potsdamer Oberlinhaus mit vier Toten gibt es laut Staatsanwaltschaft weiterhin keine Erkenntnisse über Tathergang und Motive. Dazu seien noch keine Angaben möglich, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft in Potsdam dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Freitag. Die 51-jährige tatverdächtige Mitarbeiterin des evangelischen Sozialträgers habe bisher keine Angaben dazu gemacht. Nach der Einweisung der Frau in eine psychiatrische Klinik sei nun eine Begutachtung beabsichtigt. Die Ermittlungen dauerten an.Die Frau war in der Nacht zu Donnerstag festgenommen worden, nachdem in einer Einrichtung für Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen vier getötete Hilfebedürftige und eine schwer verletzte Bewohnerin gefunden wurden. Die Staatsanwaltschaft hatte im Lauf des Tages Haftbefehl beantragt. Das Amtgericht Potsdam hatte die Frau dann in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Ermittelt wird wegen des Verdachts auf Totschlag.
Die Todesopfer seien zwei 31 und 42 Jahre alte Frauen und zwei 35 und 56 Jahre alte Männer, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft. Die Frau, die schwerverletzt überlebt hat, sei 43 Jahre alt. In der betroffenen Einrichtung, dem Thusnelda-von-Saldern-Haus in Potsdam-Babelsberg, leben nach Angaben des Trägers Oberlinhaus rund 60 Menschen, die von rund 80 Beschäftigten betreut werden. (epd)
Als Tatverdächtige gilt eine 51-jährige Pflege-Mitarbeiterin des Oberlinhauses, die am Donnerstag von einer Haftrichterin des Amtsgerichts Potsdam in eine psychiatrische Klinik in Brandenburg/Havel eingewiesen worden war. Dort soll sie auf ihre Schuldfähigkeit untersucht werden. Sie soll vier Bewohner und Bewohnerinnen am Mittwochabend vorsätzlich getötet und eine Bewohnerin schwer verletzt haben. Die Opfer waren zwischen 31 und 56 Jahre alt.
Die langjährige Mitarbeiterin sei vor der Tat nicht auffällig geworden, sagte Benke. „Alle Mitarbeiter nehmen regelmäßig an Supervisionen und Teamsitzungen teil“, erläuterte Benke. „Das ist zum Schutz unserer Klienten und Mitarbeiter unerlässlich.“
An einer Gedenkandacht in der Oberlinkirche hätten am Mittwochabend neben Politikern auch zahlreiche Mitarbeiter, Angehörige der Opfer und Bewohner des betroffenen Thusnelda-von-Saldern-Hauses teilgenommen, berichtete Benke. „Soweit die Corona-Regeln dies zuließen war die Kirche voll, einige Teilnehmer standen auch vor der Kirche.“
Wohltuend sei eine große Welle der Solidarität, die das Oberlinhaus von Verbänden und vielen Privatleuten aus ganz Europa erfahre, sagte die Sprecherin. „Diese mentale Unterstützung ist für uns ungeheuer wichtig.“ Auch im Potsdamer Stadtteil Babelsberg, wo die Gewalttat geschah, ist die Anteilnahme weiter groß. Am Freitag legten weiter viele Menschen vor dem Wohnheim Blumensträuße ab. (dpa)
Superintendentin spricht Angehörigen Mitgefühl aus
Auch Potsdam Superintendentin Angelika Zädow sich zur Gewalttat im Babelsberger Thusnelda-von-Saldern-Haus geäußert. „Mit Fassungslosigkeit habe ich von dem schrecklichen Töten an Schutzbefohlenen einer diakonischen Einrichtung in Potsdam Kenntnis genommen. Mein ganzes Mitgefühl gilt den Angehörigen. Ihren Weggefährt:innen und Mitbewohner:innen", sagte Zädow. "Aber auch die Mitarbeitenden des Oberlinhauses, Pflegekräfte, Leitungspersonal und Personalverantwortliche schließe ich in mein Gebet mit ein" Es werde ein langer Weg der Verarbeitung und der Trauer für die gesamte diakonisch-kirchliche Familie werden. "Ich bitte alle Kirchengemeinden inständig um Fürbitte für alle Betroffenen.“ (mar)
Grüne Jugend fordert besseren Schutz
Marie Liebig, Inklusionsbeauftragte der Grünen Jugend Brandenburg, zeigt sich beunruhigt diese Nachricht von der Gewalttat in Babelsberg. Gewalt durch Mitarbeiter sei in Deutschland noch immer kein Einzelfall: "Es wird häufig dargestellt, dass Menschen mit Behinderung in diesen "Schutzräumen" die Unterstützung im Leben erhalten, die sie brauchen", so Liebig. "Jedoch erfahren wir immer wieder, dass genau dieser angebliche Schutzraum es nicht schafft, vor Gewalt zu schützen. Mein aufrichtiges Beileid und Mitgefühl gilt sowohl den Angehörigen als auch den Mitbewohner*innen der Verstorbenen." (mar)Stiftung Patientenschutz fordert "Kultur des Hinschauens"
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz hat sich zur Gewalttat in Babelsberg geäußert. Sie forderte, Gewalt in der Pflege in Einrichtungen offen anzusprechen. „Wir brauchen auch in dieser Frage keine Tabuisierung, sondern eine Kultur des miteinander Redens und eine Kultur des Hinschauens“, sagte Vorstand Eugen Brysch. „Pflege macht Menschen nicht zum Täter.“ Es sei in der professionellen Pflege einfacher, im Team Gewalt anzusprechen oder Signale dafür aufzuspüren als in der Heimpflege. (dpa)Die Andacht in der Oberlinkirche ist nun zu Ende. Draußen vor dem Tor der Oberlinhauses liegen sich Angehörige in den Armen, weinen, spenden sich gegenseitig Trost. Viele bleiben noch einmal an den vielen Blumen stehen.

Ein junges Paar kommt Hand in Hand, stellt ein Glas mit einer Kerze ab und entzündet sie. "Es nimmt einen mit, wenn so etwas hier um die Ecke, bei uns im Kiez passiert", sagt die Frau. "Die Menschen hier waren immer friedlich, offen gegenüber den Anwohnern, da ist es umso schmerzhafter." (sca)
Melanie Stein laufen die Tränen über beide Wangen, als sie einen Blumenstrauß ablegt. Eine enge Freundin von ihr war eine der Bewohnerinnen, die gestern Abend getötet wurden. "Wir kannten uns noch aus Kindertagen, fast 40 Jahre lang", sagt die Frau aus Schönewalde.

Kurz nach 19 Uhr kommen etwa 25 junge Männer mit einem großen Blumengesteck die Rudolf-Breitscheid-Straße entlang. Es ist eine Gruppe Fans des SV Babelsberg 03. "In tiefer Trauer und Anteilnahme, Filmstadt Inferno 1999" steht auf der Schleife. Minutenlang stehen die Männer schweigend um die Blumen, ziehen dann weiter. (sca)

Die Glocken der Oberlinkirche läuten minutenlang. Angehörige der Opfer, Mitarbeiter und Politiker nehmen nun am Gedenkgottesdienst teil. Die Andacht ist nicht öffentlich, Journalisten und Anwohner stehen draußen am Straßenrand. Noch immer legen Menschen Blumen ab, viele bleiben mit bedrückten Mienen stehen und halten inne. Eine junge Frau betet still, bevor sie sich bekreuzigt. (sca)



Die Sprecherin der Ermittlungsbehörde wollte keine näheren Angaben machen, warum die Staatsanwaltschaft keine Mordmerkmale sieht. Ebenfalls keine Angaben machten die Ermittler zunächst dazu, ob und in welcher Form sich die Tatverdächtige einließ. Eine Unterbringung der Mitarbeiterin in der Psychiatrie sei nicht beantragt worden. Das Motiv für die Gewalttat bleibt vorerst weiter unklar. (AFP)
Andacht am Oberlinhaus doch nicht öffentlich
Eine zunächst vom Oberlinhaus angekündigte Andacht an die Opfer der Gewalttat am heutigen Donnerstagabend findet nun doch nicht-öffentlich statt. "Die Andacht ist den Angehörigen der Betroffenen, den Bewohnerinnen und Bewohnern des Thusnelda-von-Saldern-Hauses sowie den Mitarbeitenden des Oberlinhaus vorbehalten", teilte der diakonische Träger des Unternehmens am frühen Nachmittag mit. Auch Medienvertreter sind zu dem Termin am heutigen Donnerstagabend offenbar nicht zugelassen: "Es handelt sich dabei um keine öffentliche Veranstaltung und findet ohne Medienvertreter statt."
"Wir sind fassungslos, weil wir diese Tat in keiner Weise verstehen können. All unsere Sorge und unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der Betroffenen sowie den Kolleginnen und Kollegen im Thusnelda-von-Saldern-Haus“, erklärte Oberlin-Vorstand Matthias Fichtmüller. Noch am Vormittag hatte er von einer öffentlichen Andacht gesprochen.
In der Mitteilung hieß, die im Zuge der Tat schwer verletzte Bewohnerin sei im Krankenhaus notoperiert worden. "Wir beten inständig dafür, dass sie ihre Verletzungen überleben wird“, so Fichtmüller. Zugleich verwies er auf die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Potsdam. Von dort hieß es, die tatverdächtige 51-jährige Mitarbeiterin werde heute noch dem Haftrichter vorgeführt. Es werde wegen vorsätzlicher Tötung ermittelt.
In dem Wohnheim wurden am Mittwochabend vier Menschen mit tödlichen Verletzungen und eine schwer verletzte Person aufgefunden. Die Verletzung aller Opfer sind nach bisherigen Erkenntnissen auf schwere, äußere Gewaltanwendung zurückzuführen. Zum möglichen Motiv liegen noch keine Informationen vor. Bei den vier Getöteten handelt es sich den Angaben zufolge um Bewohner, die allesamt schon lange Zeit dort lebten, zwei davon bereits seit dem Kindesalter. (HK/KNA)
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