Kultur: Angst vor den Fragen der eigenen Kinder
Eröffnung der Schulkinowochen im Filmmuseum
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Popcorns und Cola gibt es bei diesem Kinobesuch nicht. Dafür schlägt den Schülern andere, harte Kost entgegen. Der Film „Jeder schweigt von etwas anderem“, mit dem gestern Vormittag im Potsdamer Filmmuseum die brandenburgischen Schulkinowochen 2006 eröffnet wurden, ist das Kontrastprogramm zu „Good bye, Lenin“.
Auch diese Dokumentation von Marc Bauder und Dörte Franke holt die ostdeutsche Vergangenheit sehr lebendig wieder in Erinnerung. Doch in den drei nachgezeichneten Lebensgeschichten brechen sich Wut, Argwohn und Angst ihre Bahn. Anne, Utz, Matthias und Tine kamen in der DDR ins Gefängnis, weil sie nicht schweigen wollten. Sie lasen „Hetztliteratur“, wozu schon ein Kinderbuch von Reiner Kunze gehörte, machten den Mund weiter auf, als erwünscht und kamen in die Fänge der Staatssicherheit. Heute haben sie Angst vor den Fragen ihrer Kinder, die jetzt im selben Alter sind, wie sie es damals waren.
Utz Rachowski reist quer durch Deutschland, um Schulklassen darüber zu berichten, wie er als Sechzehnjähriger ins Visier der Stasi geriet. Seine beiden Töchter Dagny und Anne dagegen trauen sich nicht, ihn auf seine Vergangenheit anzusprechen. Sie möchten nichts falsch machen, ihm nicht weh tun. Und so teilt Utz nur mit dem besten Freund die Alpträume vom Gefängnis. „Die anderen bleiben ausgeschlossen von dieser Extremerfahrung. Nur wir wissen, wie sich ein Tag im Arrest anfühlt.“ Wenn Utz heute an einem roten Backsteingebäude vorbei fährt, denkt er, dass darin morgen schon wieder ein Knast sein könnte. „Und die Aufseher laufen auch schon rum“. Er weiß nur zu gut, dass es die Unangepassten auch heute wieder schwer haben.
Anne Gollin macht politische Führungen im Bundeskanzleramt und in der ehemaligen Stasi-Zentrale. Dabei berichtet sie über ihre eigenen Erfahrungen. In der Familie hat die Trennung von ihrem kleinen Sohn jedoch eine tiefe Narbe hinterlassen. Der einjährige Sebastian sah mit an, wie sie verhaftet wurde und sie dabei noch die Starke spielte. Hätte sie damals nicht lieber heulen und schreien sollen? Sie selbst ging in eine Psychotherapie, doch den Sohn, um den sich nach ihrer Verhaftung die Großeltern kümmerten, kann sie von seinen seelischen Verletzungen nicht heilen. „Die Kinder laufen mit unserer Vergangenheit herum.“ Annes Eltern haben bis heute kein Verständnis für das oppositionelle Verhalten ihrer Tochter, und Anne quält sich im Verhältnis zu ihrem Sohn mit Schuldgefühlen. Wütend spricht sie vom Puppenspiel-Faschismus der DDR und von einem Gipsbett fürs Gehirn, wenn jemand die DDR zurück haben will.
Matthias und Tine Storck haben ihre drei Kinder erst bekommen, als sie bereits nach dem Westen abgeschoben waren. Sie reden heute offen über ihre Vergangenheit, doch die Kinder winken mitunter ab und denken: Nicht schon wieder. In ihrer Schule in Westfalen erfuhren sie über die DDR nur, was in „Good bye, Lenin“ zu sehen war. Und das war doch eigentlich ganz fröhlich.
Im Filmmuseum gelang es der Regisseurin Dörte Franke, dass die Schüler nach der Vorstellung auch über sich selbst erzählten. Sie wollte wissen, ob die DDR für sie überhaupt ein Thema sei. Es zeigte sich ein ganz unterschiedliches Bild: Manche Jugendliche haben Fragen, finden zu Hause aber keine offenen Ohren und suchen woanders Antworten. Ein Mädchen sagte, dass ihre Mama öfter mit ihr über die DDR rede, sich aber vor allem an eine schöne Zeit erinnere. Einige Jugendliche konstatierten, dass in dem Film nur Negatives dargestellt sei, es doch aber wohl nicht alles schlecht gewesen sei. Die Regisseurin stimmte zu, hielt aber entgegen, dass es sich nicht nur um Einzelfälle gehandelt habe. Schließlich gab es etwa 250 000 politische Häftlinge in der DDR und drum herum einen riesigen „Zersetzungsmaßnahmeplan“. „Die Schule vermittelt Zahlen und Fakten, es ist schön, jetzt in Einzelschicksalen auch das Zwischenmenschliche zu sehen“, lobte ein junger Mann den Film. Ein anderer kritisierte die große Verharmlosung in den Medien, wie er sie u.a. in Ostalgie-Shows immer wieder erlebte.
Der Dokumentarfilm gehört zu insgesamt sieben Filmen, mit dem „Filmernst“ bis Dezember in den 37 Kinos des Landes unterwegs ist. „Alle 1000 Schulen wurden von uns angeschrieben und der Zuspruch ist riesig“, so Projektleiter Jürgen Bretschneider. Sein Team vom Landesinstitut für Schule und Medien Brandenburg habe gemeinsam mit Kino Vision lange am Programm gearbeitet, dass jetzt Schülern in sechs Altersgruppen angeboten werde. „Bewusst haben wir auch zwei Dokfilme hinein genommen, die es nie leicht beim Publikum haben.“ In Potsdam konnte einer davon das Eis schnell brechen. Kein Besucher hat beim Anschauen wohl Popcorns vermisst. Heidi Jäger
Heute im Filmmuseum: „Schiffe aus Wassermelonen“ und „Die Boxerin“. „Jeder schweigt von etwas anderem“ lief in Potsdam nur einmal, kann aber von den Schulen für eine Zusatzvorstellung bei „Filmernst“ gebucht werden, wie auch andere Filme: Tel. 03378-209293.
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