zum Hauptinhalt

Kultur: Das lange Schweigen

„Im Schatten des Gulag – als Deutsche unter Stalin geboren“: Loretta Walz’ Dokfilm im Filmmuseum

Stand:

1961, kurz vor dem Bau der Mauer, ist er in den Westen gegangen, erzählt Thomas Münz. Von dort habe er seine Mutter angerufen und ihr die Flucht mitgeteilt: „Und meine Mutter ist zur Stasi gegangen und hat mich angezeigt.“ Genauer als mit dieser Begebenheit lässt sich das Paradoxe einer Lebenssituation, in der sich die Protagonisten des Dokumentarfilms „Im Schatten des Gulag – als Deutsche unter Stalin geboren“ befinden, kaum erfassen. Der in den 30er Jahren als Kind deutscher Emigranten in der Sowjetunion geborene Thomas Münz ist einer von sieben Männern und Frauen, die in dem am Mittwoch im Filmmuseum gezeigten Film über ihre Kindheit im Schatten des Gulag sprechen: Im Schatten der Verhaftungen ihrer Eltern, im Schatten von Deportationen, Lagern und Zwangsarbeit, die diese erfuhren. Und im Schatten von Kinderheimen und Not, die sie selber erlitten. Nach ihrer Rehabilitierung in den 50er Jahren und einer Rückkehr in die DDR wurde ihnen verboten, über diese Erfahrungen zu reden. Zum Teil erklärte man ihnen in mehrstündigen Gesprächen, wie ihr Lebenslauf in der Sowjetunion „verlaufen ist“.

„Das Schweigen war der Preis für ein Leben ohne weitere Ausgrenzung und Verfolgung“, heißt es in dem Film von Loretta Walz. Auch die 1936 in Moskau als Tochter überzeugter Kommunisten geborene Tamara Novotny, deren aus Polen stammender jüdischer Vater die Lagerhaft nicht überlebte, hat diese Erfahrung gemacht. Als sie nach dem Tode Stalins in einer Versammlung ihrer Leipziger Studentengruppe dessen Taten als Verbrechen bezeichnete, wurde sie zur Parteileitung vorgeladen.

Der Vater von Thomas Münz, der gemeinsam mit seiner Frau in die Sowjetunion kam, weil beide mit der Kommunistischen Partei sympathisieren, wird 1937 bald nach der Geburt des Sohnes in Moskau verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Nach Kriegsausbruch wird auch die Mutter zur Zwangsarbeit verpflichtet. Der Junge kommt in ein Kinderheim. Als 9-Jährigen holt ihn die Mutter schwerkrank dort heraus. Danach lebt er mit ihr jahrelang in einer Erdhöhle im Lager von Kasan. Erst als 16-Jähriger lernt Thomas in Kasachstan seinen soeben aus dem Lager entlassenen Vater kennen.

Ein Schicksal, das – in nur wenig variierenden Facetten – alle acht Protagonisten des Films teilen. Dass es darüber hinaus exemplarisch für ungezählte weitere Menschen galt, wurde deutlich, als Regisseurin Loretta Walz ein Erlebnis ihrer aufwendigen Recherche in russischen Archiven erzählte. Im Moskauer „Memorial“ sei ihr nach der Sichtung vieler Tausend Fotos von Menschen, die alle in Kinderheimen, Lagern, Bergwerken oder Verbannungsorten gleiches erlebt hätten, von den dortigen Kollegen gesagt worden: „Ihr könnt euch hundertprozentig sicher sein, dass jedes Kind, das ihr darauf seht, ein ähnliches Schicksal hatte wie eure Protagonisten. Ihr könnt diese Bilder für den Film benutzen.“

Überhaupt enthält der Film eine Fülle von interessanten historischen Fotos und Filmschnipsel, wie Moderatorin Martina Weyrauch, Leiterin der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung, im anschließenden Filmgespräch zu Recht betonte. Die Worte der Protagonisten wurden durch dieses Schwarz-Weiß-Material atmosphärisch noch dichter.

Warum im Film überwiegend jüdische Kommunisten interviewt wurden, erklärte Koautorin Annette Leo mit einem Zufall. Aber es stecke in dieser Tatsache durchaus auch eine Wahrheit: Viele jüdische Kommunisten, die Anfang der 30er Jahre emigrierten, hätten zu spät gemerkt, in was für eine Falle sie gegangen seien. Auch unter den Opfern Stalins seien überdurchschnittlich viele Juden gewesen.

Die Frage, warum in der Sowjetunion so viele Köpfe der Gesellschaft vernichtet wurden, ließ auch die Zuschauer im fast voll besetzten Kino in das Gespräch einsteigen. „Die einzige Antwort, die es darauf gibt, ist schwer zu begreifen – Willkür“, so Annette Leo. Die Repressalien hätten einzig den Sinn gehabt, die Herrschaft zu festigen, da sich selbst dann niemand sicher sein konnte, nicht als nächster verfolgt zu werden, wenn er sich konform verhielt, so ein Besucher. Ein anderer merkte an, dass ihm der Begriff Willkür nicht ausreiche. Er würde es als Terrorsystem bezeichnen. Loretta Walz ergänzte aus Sicht der Interviewpartner, wie schwer es sei, zu begreifen, dass es für das Schicksal des Vaters oder der Mutter keinen individuellen Grund, keine Schuld gibt. Die Geschichten sind noch lange nicht zu Ende.

Gabriele Zellmann

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })