Kultur: „Das Leid nicht aufrechnen“
Die polnische Übersetzerin Agnieszka Kowaluk über Grass, Vertreibung und interkulturelle Normalität
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An der Sommerakademie für Übersetzer deutscher Literatur des Literarischen Colloquiums Berlin nahmen jüngst 13 Übersetzerinnen und Übersetzer aus zehn europäischen Ländern sowie aus Taiwan und Japan teil. Die Sommerakademie wird gemeinsam mit dem Deutschen Kulturforum östliches Europa in Potsdam veranstaltet. Bei dem Besuch der Übersetzer in Potsdam sprachen die PNN mit der polnischen Übersetzerin Agnieszka Kowaluk über die deutsch-polnischen Beziehungen.
Frau Kowaluk, welche Folgen hatten die Enthüllungen von Günter Grass in Polen?
Dass Günter Grass seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS eingestanden hat, erstaunte mich zwar, aber es überraschte mich nicht wirklich. Ich denke, dass viele Deutsche in seinem Alter ähnliche Verstrickungen mit sich herum tragen. In Polen waren viele von dem Eingeständnis schockiert. Grass hatte mit seiner Sensibilität für demokratische Mechanismen immer ein wenig die Funktion einer moralischen Instanz bei uns. Als Grass den Literaturnobelpreis bekam, freute man sich in Polen, als habe ihn ein Pole erhalten.
Es gab nun aber auch scharfe Kritik, vor allem aus dem konservativen Lager.
Ich hatte in Polen alle erdenklichen negativen Reaktionen erwartet, etwa Beschimpfungen und Verunglimpfungen. Schaut man aber in die Internet-Foren der großen Tageszeitungen, ist dies gar nicht der Fall. Hier überwiegt die Solidarität und moralische Unterstützung mit Grass. Das teile auch ich. Die Danziger sagen heute sogar, dass der in Danzig geborene Grass einer von ihnen ist. Das ist ein großer Schritt. Auch wird anerkannt, dass Grass viel für das deutsch-polnische Verhältnis getan hat. Mit seinem Engagement und seiner Sensibilität hat er seine Vergangenheit schon längst wieder gut gemacht.
Die deutsch-polnischen Beziehungen scheinen dennoch gestört. Manch einer spricht sogar von einer Eiszeit. Welche Rolle spielt dabei die Berliner Vertriebenen-Ausstellung?
Es ist nicht neu, dass die Polen es sehr ungern sehen, wenn sich die Deutschen an ihre Vergangenheit erinnern, die ja nicht nur die Vergangenheit der Täter ist. Die Polen sehen sich sehr gerne selbst als Opfer des Nationalsozialismus, was sie ja auch in hohem Maße waren. Ich würde es gern mit Thomas Urban sagen, dessen Buch „Der Verlust“ ich gerade übersetze. Er fragt, ob das Leid einer deutschen Mutter, deren Kind auf dem Treck in den Westen stirbt, weniger Wert ist, als das einer polnischen Mutter, deren Kind auf einem offenen Wagen auf dem Weg nach Sibirien stirbt. Dieser Satz hat mich erschüttert. Ich bin in den Zeiten des Kommunismus in Polen zur Schule gegangen. Damals erfuhr man wenig darüber, dass der Zweite Weltkrieg auch Deutschen Leid zugefügt hat. Durch Urbans Worte wurde mir klar, dass die Sache keineswegs so einfach ist, wie sie auf den ersten Blick scheint.
Es gibt auch andere Sichtweisen.
Natürlich wird die Berliner Ausstellung nun in Polen politisiert. Man nimmt nun eher Notiz davon, dass die so genannte Preußische Treuhand Vermögensansprüche der Deutschen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten geltend machen will, als dass man sieht, dass die deutsche Kanzlerin wie auch ihr Vorgänger klar und deutlich gesagt haben, dass diese Bestrebungen keine Unterstützung finden. Das ist ein Politikum in Polen. Mit Deutschenhass kann man in Polen immer noch gut politisches Kapital schlagen.
Die rechtsnationale Regierung in Polen wird in Deutschland stellenweise mit etwas Sorge betrachtet.
Wenn ich die Lage mit den Augen meiner deutschen Freunde in den Medien verfolgen würde, müsste ich erschrocken sein. In Polen selbst bemerke ich aber, dass die meisten Menschen anders denken als die Regierung. Nicht anders war es in den Zeiten des Kommunismus, als die Regierung nicht wirklich die Gesellschaft vertreten hat. Ich habe ein wenig das Gefühl, dass es nun ähnlich verläuft. Obwohl es eine demokratisch gewählte Regierung ist, regiert sie sich eher selbst und nicht die Menschen, die sie vertritt. Ich kann Sie aber beruhigen, die Polen sind nicht verrückt geworden, die betrachten das Ganze eher nüchtern.
Also keine Eiszeit?
Im Gegenteil, meine Beobachtungen sind, dass sich die deutsch-polnischen Beziehungen relativ normalisiert haben. Es gibt sehr viele deutsch-polnischen Freundschaften, ja sogar Ehen und Kinder. Ich selbst habe ein deutsch-polnisches Kind, das zweisprachig aufwächst. Die Politik ist immer eine Sache gewesen, menschlichen Beziehungen eine andere. Und diese Beziehungen werden derzeit immer fester. Unabhängig von der aktuellen Politik und teils auch gegen sie.
Sie sehen eine gewisse Normalisierung.
Polen ist nun langsam im Westen angekommen. Der Osten hat sich geöffnet, Polen ist für Deutschland zum Nachbarn geworden und umgekehrt. Nun ist langsam eine Art Sättigungsgefühl eingetreten, und in Polen schaut man wieder neugierig nach Osten. Zum Beispiel ist hier der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk eine Art Vorreiter. Er schaut weit nach Osten, nicht aber um die Exotik in den entlegendsten Ecken der Ukraine zu suchen, sondern um zu zeigen, dass dort die Welt nicht endet. Westeuropa ist nicht die ganze Welt. Das sehen auch viele Westeuropäer so, die über Polen weiter in den Osten reisen.
In der Kunst sind interkulturelle Beziehungen schon länger zu finden.
Etwa Elfriede Jelinek und Olga Tokarczuk. Sie haben zusammen ein Drama verfasst. Es ist großartig, dass diese Zusammenarbeit aus sich selbst heraus entstand, ohne politischen Anstoß von außen. Ein anderes Beispiel ist die Inszenierung von Stasiuks Stück „Nacht“, das am Düsseldorfer Schauspielhaus von dem polnischen Regisseur Mikolaj Grabowski mit einem deutsch-polnischen Ensemble aufgeführt wurde. Die Deutschen haben die Rollen der Polen eingenommen und umgekehrt. Ein wunderbar verspieltes Stück, das mit deutschen und polnischen Klischees arbeitet. Unbequeme Dinge werden hier bis zur Absurdität getrieben, um ihnen eine komische Seite abzugewinnen. Auch wenn sie in Wirklichkeit gar nicht so lustig sind.
Trotz allem, es bleibt ein eigenartiges Gefühl, wenn man beim deutsch-polnischen Verhältnis von Normalität spricht.
Die deutsch-polnischen Beziehungen werden immer etwas speziell bleiben. Manche Dinge darf man eben nicht vergessen. Das eingangs erwähnte Buch von Thomas Urban spricht es an. In Polen hat man große Sorge, dass sich die Deutschen etwa anhand der Vertreibungs-Ausstellung als einzige Opfer neben den Juden sehen. Man fürchtet, dass der Kontext vergessen wird – und das, was die Nazis den Polen angetan haben. Thomas Urban will beide Seiten zeigen. Der Autor ist mit einer Polin verheiratet, seine Schwiegereltern sind polnische Vertriebene aus Lemberg, seine Eltern wiederum aus Polen Vertriebene. Er wollte auch ihnen eine Stimme geben. Denn er weiß sehr wohl, dass sie jahrzehntelang schweigen mussten, weil das Thema auf beiden Seiten ein Tabu war.
Zu welchem Schluss kommt er?
Dass man nicht ein Leid mit einem anderen aufrechnen darf. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder von 1965. Hier fiel angesichts der Millionen Toten und Vertriebenen auf beiden Seiten infolge des Zweiten Weltkriegs der Satz: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Das ist nun im Fall von Günter Grass wieder aktuell: In welchem Maße soll, muss und darf man sich mit der Vergangenheit beschäftigen, um weiter leben zu können?
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
Agnieszka Kowaluk (37) übersetzt deutsche Literatur ins Polnische, darunter Werke von Elfriede Jelinek und Hans-Ulrich Treichel. Sie lebt im ostpolnischen Zbereze und in München.
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