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Kultur: „Er inszeniert WikiLeaks fast wie ein Drama“

WikiLeaks hat in den vergangenen Jahren ganz normalen Lernprozess durchlaufen.“ Spiegel-Autor Holger Stark hat ein Buch über die Enthüllungsplattform WikiLeaks geschrieben, morgen stellt er es in Potsdam vor Julian Assange denkt sehr komplex und agiert sehr virtuos wie ein Schachspieler.“

Stand:

Tausende Kriegsprotokolle aus Afghanistan und dem Irak, geheime Botschaftsdepeschen und das „Collateral Murder“-Video, das den Luftangriff in Bagdad vom 12. Juli 2007 auf Zivilisten dokumentierte, hat die Enthüllungsplattform WikiLeaks im vergangenen Jahr im Internet veröffentlicht. Dann kamen die Vergewaltigungsvorwürfe gegen den Gründer und Kopf Julian Assange auf. Seit dem ist es ruhig geworden um WikiLeaks. Herr Stark, da stellt sich die Frage mit Blick auf die rasante Schnelllebigkeit im Internet, wie relevant WikiLeaks eigentlich noch ist?

Ich halte es für einen Fehler, WikiLeaks nur an der Relevanz zu messen, wenn gerade eine neue und spektakuläre Veröffentlichung erschienen ist. WikiLeaks stellt zwei Herausforderungen dar, eine politische und eine mediale. Die politische besteht darin, dass es durch das Internet möglich geworden ist, Staaten leichter ihre Geheimnisse zu entreißen.

An Staatsgeheimnisse heranzukommen ist aber schon ein sehr langlebiges Geschäft.

Ja, aber stellen Sie sich vor, früher hätte jemand versucht, 250 000 sogenannte Kabel, also Botschaftsdepeschen, aus dem Auswärtigen Amt in Berlin herauszuholen, um so Skandale aufzudecken. Dafür hätte ein Umzugsunternehmen ein ganzes Wochenende lang arbeiten müssen, um auf herkömmlichen Wege, also auf Papier, diese Geheimnisse zu transportieren. Im Fall von WikiLeaks und dem State Department in den USA ist dies mit drei, vier Mausklicks gelungen und das Material war einmal um die halbe Welt gewandert. Das heißt, für Staaten stellt WikiLeaks grundsätzlich eine Herausforderung, wenn nicht sogar eine Bedrohung dar, weil besonders zu schützende Regierungsgeheimnisse nicht mehr so sicher sind, wie sie es früher einmal waren.

Und die mediale Herausforderung durch WikiLeaks?

Für Medien stellt WikiLeaks eine große Herausforderung dar, weil es den herkömmlichen Journalismus hinterfragt. WikiLeaks operiert mit dem grundsätzlichen Anspruch, jede Information als Originaldokument zu veröffentlichen und versieht damit den klassischen Journalismus mit einem Fragezeichen. Teilweise tritt WikiLeaks auch in Konkurrenz zu ihm, was sicherlich auch dazu beiträgt, dass durch das Internet ein direkterer und nachvollziehbarer Journalismus entsteht. Deswegen glaube ich, dass die grundsätzliche Bedeutung von einer Organisation wie WikiLeaks über die einzelne und spektakuläre Veröffentlichung hinaus von grundsätzlicher Natur ist.

Aber was genau passiert gerade aktuell bei WikiLeaks?

WikiLeaks bereitet zum einen weitere Publikationen vor und arbeitet mit Hochdruck daran, das Einsendesystem, das derzeit nicht funktioniert, wieder öffentlich zugänglich zu machen. Julian Assange wartet auf die Entscheidung im Fall seiner Auslieferung nach Schweden, die möglicherweise Anfang Oktober durch den Londoner High Court fallen könnte und er bereitet sich gedanklich darauf vor, was passiert, wenn er nach Schweden ausgeliefert wird.

Was zeichnet WikiLeaks neben den Veröffentlichungen von spektakulären Geheimdokumenten im Internet noch aus?

WikiLeaks hat für die Hackerkultur im Internet die Regeln geändert. Früher haben Hacker missliebige Seiten im Internet lahm gelegt oder verändert. Heute geht es nicht mehr darum, den Gegner durch solche Aktionen bloßzustellen. Heute werden Daten entwendet, um sie im Netz zu veröffentlichen, gerne mittels Organisationen wie WikiLeaks. Das ist im Wesentlichen der Verdienst von Julian Assange, dass die Hacker heute schauen, welche Daten gibt es, welche Missstände werden dadurch aufgezeigt und wie können sie damit umgehen.

Julian Assange hat eine sehr deutliche Einstellung, was den klassischen Journalismus betrifft, man könnte fast schon von einem Feindbild sprechen. Das beschreiben Sie sehr ausführlich in dem Buch „Staatsfeind WikiLeaks“, das sie am morgigen Donnerstag in Potsdam vorstellen. Trotzdem arbeitet Assange unter anderem mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel zusammen. Wie kam es zu dieser doch ungewöhnlichen Verbindung?

Wir hatten verfolgt, dass im November 2008 auf WikiLeaks.org ein vertraulicher Report des Bundesnachrichtendienstes veröffentlicht wurde und haben daraufhin erstmals Kontakt zur Organisation aufgenommen. Nachdem wir uns im Frühjahr 2010 mehrmals mit dem damaligen deutschen Sprecher getroffen hatten, war schnell klar, dass wir mit Julian Assange sprechen müssen, weil er der Mann ist, der die Entscheidungen trifft. Und dabei haben wir festgestellt, dass uns ein Interesse eint: Solche relevanten Informationen wie die über den Afghanistan- oder den Irakkrieg auszuwerten, aufzuarbeiten und zu veröffentlichen. Assange hat ein sehr zwiegespaltenes Verhältnis zu den klassischen Medien. Man könnte auch fast schon von einer Art Hassliebe sprechen. Er braucht die Medien einerseits, um selbst populär zu sein, vor allem aber auch für die Auswertung der Informationen. Andererseits verachtet er sie, weil er sie als Teil des herrschenden Systems betrachtet. Das macht die Zusammenarbeit mit Julian Assange und WikiLeaks nicht immer einfach, denn mal ist er sehr offen und zugewandt, gelegentlich aber auch abgrenzend und auch harsch. Aber wir haben persönlich einen angenehmen und produktiven Umgang miteinander gehabt.

Was diese Hassliebe betrifft, fühlen Sie sich trotzdem als gleichberechtigte Partner oder doch nur als Mittel zum Selbstdarstellungszweck von Julian Assange?

Wir haben Interessen, die teils unterschiedlich sind, die sich aber auch zum Teil decken. Potenziell sind die Ansätze inhaltlich gar nicht so verschieden. Beim Spiegel legen wir allerdings Wert darauf, dass für uns Informationen wie die Afghanistan-Kriegsberichte oder die diplomatischen Depeschen in der Regel erst der Beginn einer Recherche sind, während bei WikiLeaks der dokumentarische Charakter im Vordergrund steht, also das Originalmaterial publiziert wird. Die Frage ist aber, ob jeder, der sich mit diesen Originaldokumenten auseinandersetzt, daraus auch schlau wird. Das ist häufig nicht der Fall. Und daher bin ich sicher, dass es auch immer klassischen Journalismus wird geben müssen, um eine Einordnung, Sortierung und Bewertung solcher Dokumente zu gewährleisten.

WikiLeaks, so zumindest der öffentliche Eindruck, ist vor allem Julian Assange.

Auf der einen Seite ist WikiLeaks ein Internet-Start-up wie es viele gibt, bloß dass es in diesem Fall von einer alternativen und antiautoritären Bewegung herrührt, die aus der Hackerkultur stammt. Und wie viele andere Start-ups leidet auch WikiLeaks unter dem Problem, dass es sehr konzentriert ist auf eine Person, nämlich Julian Assange. Mit all seinen Stärken und Schwächen, Licht und Schatten, Genie und Wahnsinn, um es etwas pathetisch auszudrücken. WikiLeaks erscheint manchen Leuten als heroisch, anderen als dunkle Macht. Ich habe selten ein Phänomen gesehen, wo die Emotionen so gespalten sind, wo so stark polarisiert wird. Wenn Sie sich im Internet umschauen und beispielsweise bei Twitter den Suchbegriff „WikiLeaks“ eingeben, werden Sie sehen, dass es eine wahnsinnig große Community gibt, die dieses Projekt leidenschaftlich und um jeden Preis verteidigt. Da wird Assange regelrecht verehrt. Gleichzeitig werden Sie auf Leute treffen, für die WikiLeaks die Inkarnation des Schlechten und Bösen bedeutet. Allerdings gibt es um Assange ein Team von vielleicht einem knappen dutzend Leuten, die mit ihm zusammen für WikiLeaks arbeiten.

Brauchen solche Projekte, gerade in der Anonymität des Internets, um Bedeutung und Wirksamkeit zu erreichen, solche polarisierende Typen wie ein Julian Assange?

Die Person von Julian Assange und seine ganze schillernde Art hat dieses Projekt sicherlich extrem befördert. Er selbst ist der Posterboy, der die Leute neugierig macht, der sie angezogen hat und der die Idee geschickt verkauft. Das Projekt WikiLeaks hätte wahrscheinlich auch ohne ihn funktioniert, weil die Idee dahinter sehr gut ist. Aber die Geschichte wäre mit Sicherheit nicht so spektakulär verlaufen. Julian Assange ist derjenige, der geschickt mit den Medien, mit der Öffentlichkeit spielt und sich eine genaue Choreografie überlegt, bei der er bestimmte Leute fast wie Statisten betrachtet und sie wie Figuren auf einem Brett hin- und herschiebt. Assange denkt sehr komplex und agiert sehr virtuos wie ein Schachspieler in diesem Dreieck zwischen Internet, den klassischen Medien und der Politik. So inszeniert er WikiLeaks fast schon wie ein Drama.

Sie haben mit Julian Assange zahlreiche Gespräche geführt. Wie haben Sie ihn erlebt? Nur als öffentliche Figur, als die er sich inszeniert oder sind Sie ihm auch persönlich näher gekommen?

Julian Assange ist insofern eine interessante Person, als dass er diese Trennung von privatem und politischem Auftreten fast komplett aufgehoben hat. Das liegt zum einen daran, dass er bisher fast immer in Bewegung war, ständig auf Reisen und nirgends ein festes Privatleben etabliert hat. Gleichzeitig ist er in seiner Denkweise im Grunde 24 Stunden am Tag von seinem politischen Gespür durchdrungen. Rund um die Uhr denkt er darüber nach, welche die nächsten Züge sein können, wie er das Projekt WikiLeaks noch weiter vorantreiben kann. Bei Julian Assange merkt man einfach, dass seine Inspiration und seine intellektuellen Kapazitäten sehr ausgeprägt sind. Von dem aber auch zu spüren ist, dass er sehr schwer loslassen kann. Die Vorstellung, dass sich Julian Assange auch mal einen faulen Nachmittag gönnt, auf der Couch liegt, ein Buch liest und Latte Macchiato trinkt, erscheint mir fast schon absurd.

Obwohl er doch jetzt, wo er in England unter Hausarrest steht, genug Zeit dafür hätte.

Im Gegenteil, seit er in England mit einer Fußfessel auf dem gregorianischen Landsitz Ellingham Hall wegen der Vergewaltigungsvorwürfe in Schweden festsitzt, also seit vergangenem Dezember, ist sein Leben komplett durchdrungen von dieser Frontstellung: Er versus die Vereinigten Staaten von Amerika und deren Verbündete, zu denen er die schwedische Justiz rechnet und möglicherweise auch die englische, wenn sie ihn denn ausliefern sollte. Julian Assange befindet sich gerade in einer Grundsatzauseinandersetzung, die ihn 24 Stunden am Tag bestimmt.

Mittlerweile wird WikiLeaks sehr genau von den internationalen Geheimdiensten beobachtet. Was heißt das für die Arbeit dieser Enthüllungsplattform?

WikiLeaks ist grundsätzlich mit zwei Herausforderungen konfrontiert. Zum einen dafür zu sorgen, dass die Leute, die die WikiLeaks-Seite ansteuern und Informationen hinterlassen, nicht auffliegen. Zum anderen ist da der Anspruch, keine gefälschten Dokumente zu veröffentlichen. Erst neulich habe ich darüber mit Julian Assange gesprochen und er sagte, dass WikiLeaks im Fall Brad Manning, wenn Manning denn tatsächlich derjenige war, der die Afghanistan-Kriegstagebücher und die diplomatischen Kabel an WikiLeaks weitergeleitet hat, weniger Glück hatte, aber alle anderen Quellen schützen konnte. Auch bei den veröffentlichten Dokumenten habe man fast durchweg Glück gehabt und sei noch keiner massiven Fehleinschätzung hinsichtlich von Fälschungen aufgesessen. Gleichzeitig fürchtet Assange auch, dass dies nicht immer gut gehen wird. Und natürlich steht WikiLeaks mittlerweile unter Beobachtung sämtlicher Geheimdienste, was es immer schwieriger macht, Informationen sicher zu hinterlegen, ohne aufzufliegen.

Warum diese Selbstkritik im Fall Brad Manning? Es war doch nicht die Schuld von WikiLeaks, dass Manning ins Visier der Ermittlungsbehörden geraten ist.

Als Assange die Nachricht erreichte, dass jemand festgenommen wurde, der möglicherweise die Quelle zahlreicher Informationen ist, darunter auch des „Collaterall Murder“-Videos, da war ihm schlagartigklar, was das bedeuten könnte. Er hat dann mit einem Mitarbeiter von WikiLeaks über eine geschützte Leitung telefoniert und seine ersten Worte waren: Es ist der worst case eingetreten, das Schlimmste also, was uns überhaupt passieren konnte, weil es die Glaubwürdigkeit des Projektes unterminieren könnte. Und das, obwohl Manning, wenn er es denn war, sich tatsächlich selbst im Chat verraten hat und nicht durch eine mangelhafte Technik bei WikiLeaks aufgefallen ist.

Auf der einen Seite dieser hohe Anspruch, Staaten ihre Geheimnisse zu entreißen. Auf der anderen dann die Veröffentlichung einer fragwürdigen Krankenakte von Steve Jobs, dem Gründer und Kopf von Apple, die eine Aids-Erkrankung beim ihm belegen soll, was auch im Internet zu einer heftigen Grundsatzdebatte geführt hat, was nun öffentlich und was privat ist. War das nur ein typischer Anfängerfehler oder muss man mit solchen Veröffentlichungen auch in Zukunft bei WikiLeaks rechnen?

Einerseits ist WikiLeaks in den vergangenen Jahren einen ganz normalen Lernprozess durchlaufen, wie ihn klassische Medien in ihren Anfangszeiten auch hatten. Was ist relevant? Darf es eine Zensur geben? Gibt es das Zurückhalten von Informationen aus guten Gründen oder gibt es dies nicht? Vor einem Jahr haben wir mit Assange in London gesessen und sind mit WikiLeaks die Afghanistan-Kriegsberichte durchgegangen. Assange wollte sie alle komplett, ohne jede Ausnahme, ohne jede Schwärzung veröffentlichen.

Da wollte er doch nur gemäß dem Grundsatz handeln, Originaldokumente in ihrer ursprünglichen Form zu veröffentlichen.

Ja, aber zusammen mit den Kollegen vom Guardian haben wir darauf gedrungen, die Namen von Informanten zu schwärzen. Denn es wäre gut möglich, dass Menschen nach der Veröffentlichung ihrer Namen an einem Baum, auf einem Marktplatz irgendwo in Südafghanistan hängen würden, wenn die Taliban herausgefunden hätten, wer mit den Amerikanern kooperiert. Das hat Asssange am Anfang nicht eingeleuchtet. Erst nach einer längeren Diskussion hat er es eingesehen. Bei den Kriegsberichten aus dem Irak, die im Oktober 2010 veröffentlicht wurden, hat WikiLeaks dann aus eigenem Antrieb Namen geschwärzt, Ortsangaben und teilweise GPS-Daten so verändert, dass sie nicht mehr nachvollziehbar waren. Und bei den diplomatischen Kabeln hat WikiLeaks sogar den kompletten Schwärzungsprozess in die Hände der Medien gelegt.

Also ist auch ein Julian Assange einsichtig?

Das war ein Prozess des Lernens, den WikiLeaks und Assange durchlaufen mussten. Gleichzeitig aber muss man auch sagen, dass Assange in seiner ganzen Haltung, seiner Denkweise radikaler agiert und den Mainstream-Medien, wie er den klassischen Journalismus gern nennt, vorwirft, sich zu sehr gemein zu machen mit den Mächtigen, sich zu sehr eingerichtet zu haben in einer Nische und nicht radikal genug zu denken. Assange möchte diesen vermeintlichen Konsens, der seiner Meinung nach zwischen Politik und Journalismus besteht, aufbrechen. Da sieht er sich in der Rolle des Revolutionärs, der die Spielregeln ändert. Und deswegen würde ich auch bis heute nicht ausschließen, dass so etwas wie die Steve-Jobs-HIV-Tests auf WikiLeaks wieder erscheint.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Holger Stark stellt am morgigen Donnerstag, 18 Uhr, „Staatsfeind WikiLeaks“ in der Landeszentrale für politische Bildung, Heinrich-Mann-Allee 107, Haus 17 vor. Der Eintritt ist frei

Holger Stark, geb. 1970, leitet das Ressort Deutschland im Berliner Büro des „Spiegel“ und berichtet über Themen aus der Welt der Sicherheitspolitik und der Geheimdienste.

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