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Kinder als Versuchskaninchen, um Tuberkulose-Impfstoff zu testen.

© Andreas Klaer

Kultur: Im Gedenken der Kinder

Eine Ausstellung im HBPG schildert die Verbrechen von Ärzten an Kindern in der NS-Zeit

Stand:

Ein herbstlicher Montagmorgen. 60 Kinder aus der Psychiatrischen Anstalt in Brandenburg-Görden werden ins Zuchthaus Brandenburg gefahren. Dort pfercht man sie in eine Kammer und lässt Gas ein. Tod auf Bestellung. In der Berliner Charité wartet man an diesem 28. Oktober 1940 bereits auf die Gehirne der „Ballast-Existenzen“, um daran zu experimentieren und dem „Schwachsinn“ auf die Spur zu kommen. Über 10 000 körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche fielen von 1939 bis 1945 medizinischen Verbrechen zum Opfer.

Die Sonderausstellung „Im Gedenken der Kinder“, die heute im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (HBPG) eröffnet wird, gibt ihnen Gesichter. Was auf 35 grünen großformatigen Bild-Text-Tafeln zu sehen ist, erschüttert in der eiskalten systematischen Ausführung bei der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Es ging den Ärzten bei der Tötung in der Regel nicht um ein schmerzloses Ende individuellen Leidens, sondern um die Befreiung des Allgemeinwesens von „nutzlosen Geschöpfen“.

„Wenn wir die Zahl der in Anstaltspflege befindlichen Idioten zusammenrechnen, so kommen wir schätzungsweise etwa auf eine Gesamtzahl von 20 bis 30 000. Nehmen wir für den Einzelfall eine durchschnittliche Lebensdauer von 50 Jahren, so ist leicht zu ermessen, welches ungeheure Kapital in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizung dem Nationalvermögen für einen unproduktiven Zweck entzogen wird“, schrieben die Professoren Alfred Hoche und Karl Binding schon 1920 in „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Es ist wie ein Prolog zur Ausstellung.

Im Frühjahr 1939 richten dann Eltern aus Sachsen ein Gesuch zur Tötung ihres schwer behinderten Säuglings an Adolf Hitler. Auf persönliche Zustimmung des „Führers“ wird das Kind eingeschläfert. Der Beginn eines umfassenden „Euthanasie“-Programms. „Hitler nannte es den ,Gnadentod’, als Feigenblatt für Tötungen, die auch damals außerhalb der Gesetzgebung standen und geheimgehalten wurden“, sagte am gestrigen Donnerstag Ausstellungskurator Thomas Beddies von der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, die diese sehr eindrückliche Ausstellung erarbeitete. Sie bezieht auch Propagandamaterial der Nationalsozialisten ein, wie den Stummfilm „Erbkrank“. Er zeigt unter anderem epileptische Geschwister und unterschreibt die Aufnahme mit dem Vermerk „Bisherige Kosten: 20900 RM“. Immer andere Gesichter werden aneinandergereiht und mit den „Unkosten“ beziffert.

Es gibt auch Fotos aus der Vorkriegszeit, die zeigen, wie Menschen mit Behinderung im Krankenhaus noch umhegt und integriert wurden. Lachende Kindergesichter sind aus dem „Wilhelmstift“ Potsdam zu sehen, die als Reformeinrichtung galt und von Hans Heinze geleitet wurde. Er genoss großes Ansehen und leistete gute Arbeite im Sinne von Förderung. Als das Stift 1938 geschlossen wurde, ging er nach Brandenburg-Görden. Heinzes Engagement schlug in Tötungsforschung um. Görden wurde Reichsschulstation zur Instruktion auswärtiger Ärzte in Fragen der Selektion und Tötung. An der Seite von Heinze arbeitete die Oberärztin Friederike Pusch. Sie schrieb „Schlechtmeldungen“ an die Eltern, wenige Tage bevor deren Kinder ermordet wurden. Da heißt es: „Ihre Tochter ist an Lungenentzündung erkrankt“, drei Tage später folgt die Todesbotschaft. In Briefen von Opfern und Tätern, die an einer Hörstation eingespielt werden, wird deutlich, dass es Eltern gab, die den Tod ihrer Kinder wünschten und andere, die sich beschwerten, dass ihnen ihre Kinder weggenommen wurden. Manche stimmten einer Aufnahme in der Psychiatrie zu, gelockt mit besonderen Therapieverfahren, anderen wurde mit dem Entzug des Sorgerechts gedroht.

„Die Ärzte bewegten sich in dem Bewusstsein, dass sie experimentieren und töten durften. Sie fühlten sich als Elite einer verantwortungsfreien Wissenschaft“, so Beddies. Vielfach seien es Ärztinnen gewesen, die an der „Euthanasie“ mitwirkten. Wie Marianne Salzmann, die frisch von der Universität kam und in der Männerdomäne ihren Platz finden musste. Am besten waren da Fächer im Aufbruch geeignet, wie die Kinderheilkunde oder Psychiatrie. Marianne Salzmann übernahm an der Charité die äußerst schmerzhaften Tuberkulose-Impfversuche.

Als freundlichen alten Herrn mit einem fröhlichen Mädchen im Arm sieht man in der Ausstellung auch Jussuf Ibrahim, der seine Biografie mit „Arzt der Kinder“ überschrieb. Erst in den 90er Jahren wurde bekannt, dass er als ehemaliger Leiter der Jenaer Universitäts-Kinderklinik Kinder für die „Euthanasie“ vorschlug. Und wie viele seiner mitschuldigen Kollegen Verdienter Arzt des Volkes wurde.

Die Ausstellung mit Fotos, Kinderzeichnungen und einem Auszug aus einem Diktat, das als Intelligenztest diente, gibt den „Ballastexistenzen“ ihre Würde zurück und den Toten Gesichter. Und sie will, ohne kurzschlüssig zu sein, davor warnen, heute alles Machbare zu machen und „Designerbabys“ zu entwickeln, wie Beddies betonte. Nach Potsdam geht sie nach Berlin und Leipzig. Auch Freiburg und Hamburg haben Interesse bekundet, der Kinder zu gedenken, die vor 70 Jahren gequält und getötet wurden und die keine Lobby besaßen. Heidi Jäger

Noch bis zum 13. März im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Am Neuen Markt 9

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