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Kultur: Kerben und Knotenpunkte

Beobachtungen und Resümees in der Kunst- und Kulturszene Potsdams im Jahre 2003 Geschichte im Kutschstall, junge Leute wieder im Spartacus, bevorstehender Führungswechsel im Theater, hochkarätiger Orgelsommer

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Beobachtungen und Resümees in der Kunst- und Kulturszene Potsdams im Jahre 2003 Geschichte im Kutschstall, junge Leute wieder im Spartacus, bevorstehender Führungswechsel im Theater, hochkarätiger Orgelsommer Dem Jahreswechsel messen wir ganz unterschiedlich viel oder wenig Bedeutung zu, blicken zurück und nach vorn, bilanzieren einen Teil unseres Lebens, werden sentimental oder ausgelassen, laden Freunde ein oder ziehen uns zurück. Silvester und Neujahr haben für jeden eine individuelle Bedeutung, sind Stunden der Rückschau, der Wehmut, der Nachdenklichkeit, der Bilanzierung, der Freude, der formulierten oder still gefassten Vorsätze, der Hoffnungen und Wünsche. Redakteure und freie Mitarbeiter, die 2003 die Kultur und Kunst in Potsdam begleiteten, haben ihre Beobachtungen zu Papier gebracht. Sie beteiligen sich damit in ganz unterschiedlicher Weise am Nachdenken über Kerben und Knotenpunkte im Kulturleben dieser Stadt. Auf dem Wege Ist das Potsdam-Museum wieder im Aufwind, fragten wir Ende des vergangenen Jahres. Man kann inzwischen mit Fug und Recht behaupten, dass das städtische Museum wieder von sich reden macht – nach den Jahren der Stagnation. Besonders die treffliche Ausstellung „Königliche Visionen“ (Kuratorin: Friedhild den Toom), die im neu eröffneten Haus der Brandenburgisch–Preußischen Geschichte (HBPG) im Kutschstall stattfindet, ist ein Beispiel, dass das Museum auf gutem Wege ist. Es berichtet nämlich davon, welche Schätze und welch“ wissenschafliches Potenzial in dieser städtischen Einrichtung zu finden sind. Nun aber sollten alle Kräfte gebündelt werden, um den versprochenen Ausbau des Stammhauses in der Benkertstraße in Gang zu bringen. Ein Museum lebt nicht von Sonderausstellungen allein – und sind sie noch so gut gemacht. Das HBPG, das am Ende dieses Jahres offiziell der Öffentlichkeit übergeben wurde, erwies sich bereits in den ersten beiden Wochen als ein Publikumsmagnet. Dieses Haus, dessen Gesellschafter Land und Stadt sind, ist auf dem Wege zur Bewerbung Potsdams für die Kulturhauptstadt 2010 ein wichtiger Schritt gewesen. Wenn in Potsdam bislang eine groß dimensionierte Ausstellung stattfand, dann wurde sie zumeist von der Schlösserstiftung initiiert und organisiert. Auch in dem nun zu Ende gehenden Jahr natte sie eine besonders ertragreiche Schau für alle, die sich mit Kunst und Geschichte beschäftigen. Die Stiftung widmete sich einem Sohn Potsdams, der vor 200 Jahren geboren wurde, und unter König Friedrich Wilhelm IV. zum ersten Architekten Preußens avancierte. Der sehenswerten Ausstellung im Schloss Babelsberg ging bereits im Frühjahr eine wunderbar stimmige Festveranstaltung zum Geburtstag Persius“ im Nikolaisaal voraus, die unter anderen von der Potsdamer URANIA verantwortet wurde. Das Vorhaben der Stadt, für ein Jahr den Titel Kulturhauptstadt Europas tragen zu dürfen, ist ein mutiger Entschluss, wenn man bedenkt, dass an allen Ecken und Kanten in der Kultur gespart werden muss, für die meisten Einrichtungen oftmals bis an der Grenze des Ertragbaren. Immer wieder redet man in Zusammenhang mit der Bewerbung davon, dass Potsdam mehr für die moderne Kunst tun sollte. Ohne Frage, die Kunst des Barocks, Rokoko, Klassizismus und des Historismus nehmen in der Stadt einen breiteren Raum ein als die zeitgenössische. Sie bedarf aber unbedingt der Förderung. Doch auch die alte Kunst kann sehr modern sein, wenn sie mit Herz und Sinne der Menschen von heute interpretiert wird. Dies ist natürlich bei der Wiedergabe von dramatischen Texten und Musik besonders möglich. Die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci, die 2004 ihr 50jähriges Jubiläum feiern, haben mit ihrem vielfältigen Programm sowie den hervorragenden Solisten und Ensembles 2003 wieder den Beweis dafür erbracht. Klaus Büstrin Neuer Wind im alten „Blech“ Das Theaterjahr trumpfte erst so richtig auf, als es sich fast dem Ende neigte. Mit „König Lear“ bekamen die Zuschauer Gedankenund Gefühlsstoff serviert, der auch über den Abend hinaus wirkte. Tragisches und Komödiantisches hielten sich die Balance, Schauspieler bekamen Futter, das sie mit offensichtlicher Freude gern „vernaschten“. Das um den furios aufspielenden Hauptdarsteller Alexander Lang agierende Ensemble bot eine geschlossene Leistung: Altbewährtes Können, wie von Rita Feldmeier, Roland Kuchenbuch oder der nunmehr in den Ruhestand gehenden Gertraud Kreißig stand neben charismatisch-jugendlicher Frische eines Philipp Mauritz oder Henrik Schuberts. Mit dem Weihnachtsmärchen „Aladin und die Wunderlampe“ setzte sich das Kinder- und Jugendtheater nach einem vielfarbig getupften Jahr ein besonderes Glanzlicht auf. Musik, Kostüme, Bühnenbild und ein ausdrucksstarkes und poetisches Maskenspiel sorgten für Verzauberung - nicht nur bei den kleinen Leuten. Das Musiktheater zeigte mit „Herkules“ bereits im Frühjahr, dass sich ein Oratorium durch einfühlsames szenisches Gestalten zu neuen „Höhen“ aufschwingen kann. Die Stimmen der beiden weiblichen Protagonistinnen Maria Ricarda Wesseling und Netta Or sowie des Neuen Kammerchores Potsdam blieben noch lange im Ohr. Regie führte hier ebenso wie bei „König Lear“ der scheidende Intendant Ralf-Günter Krolkiewicz, der sich aus Krankheitsgründen künftig ausschließlich dem Inszenieren und Schreiben widmen wird. Mit dem designierten Intendanten Uwe Erik Laufenberg kam schon vor seinem Amtsantritt Bewegung in das Potsdamer Theaterleben. Just zur Grundsteinlegung des neuen Theaterhauses in der Schiffbauergasse machte ein Schreiben des Betriebsrates die Runde, das die Nichtverlängerung von zwölf Schauspieler-Verträgen attackierte. Zwar kam es nicht ganz so hart, aber immerhin müssen sich nunmehr acht Mimen nach anderen Wirkungsstätten umsehen. Dennoch: frischer Wind tut gut, und Laufenbergs Visionen hören sich zumindest erst einmal spannend an. Neue Räume sollen für das Theater erobert werden, neue Schauspieler und Regisseure sie mit ihrer Kunst füllen. In die alte Blechbüchse zieht Experimentelles ein. Und es soll an jedem Tag der Woche ein Angebot auf dem Spielplan stehen. Das dürfte viele theaterbeflissene Potsdamer erfreuen, die mitunter auf ein recht löchriges Monatsprogramm schauten. Das Theater machte auch außerhalb der Stadt von sich reden: nicht nur auf Rädern im neu zu überdenkenden Theaterverbund. So erhielt die Jugendtheaterproduktion „Fluchtwege“ (Regie Yüksel Yolku) den diesjährigen Brüder-Grimm-Preis der Stadt Berlin. Es gab noch mehr Preise für Potsdams Kulturanbieter. Die fabrik überzeugte erneut vor internationalem Publikum und holte beim größten Theater- und Tanzfestival in Edinburgh die zwei wichtigsten Preise für ihre Produktion „Pandora “88“. Die von Wolfgang Hoffmann und Sven Till getanzte Choreografie setzte sich damit unter 1500 Produktionen bei den Kritikerjurys durch. Auch Potsdams Kinolandschaft ist kein unbeschriebenes Blatt. Für das Filmtheater „Thalia“ und das umtriebig in verschiedenen Gefilden grasende „Melodie“ gab es den Kinoprogrammpreis Berlin-Brandenburg 2003. Das Filmmuseum wurde gleich doppelt geehrt: mit dem Kinopreis der Kinemathek der Bundesrepublik und dem Programmpreis der DEFA-Stiftung. Den Preis für eines der nachdrücklichsten Zuschauererlebnisse könnte DeGater “87 verliehen bekommen, denn dieser rührige Verein hat mit seinem zehnten Unidram-Festival solch“ fulminante Aufführung wie „La Divina Commedia“ der russischen Gruppe „Derevo“ nach Potsdam geholt. DeGater “87 verabschiedete sich mit „Der stumme Diener“ in diesem Jahr aus seiner langjährigen Wirkungsstätte im Waldschloss und zieht nunmehr in Liaison mit dem Poetenpack in das sich umkrempelnde Kulturareal in der Schiffbauergasse. Heidi Jäger Mit Frischblut neu versehen Da ist er schon wieder, der Jahresrückblick, und wie immer viel zu schnell. Zwar hatten die zwölf Monate Einiges zu bieten, doch muss hier mit einer Wiederholung begonnen werden. Denn auch in diesem Jahr war der grandiose Pablo Ziegler zu Gast im Waschhaus. Und obwohl sich gerade der Frühling entfaltete, war schon nach den ersten Akkorden klar, Ziegler mit seinem Tango nuevo wird einer der unbestrittenen Höhepunkte des Jahres sein. Zum Ende des Jahres hin, mit der Eröffnung des Spartacus, endlich der ernstgemeinte Versuch, die Jugend von den Rändern in das Stadtzentrum zurück zu holen. Auftritte kleinerer Bands, trotz miserabler Akustik in den Räumen, zogen ein Publikum. Doch schon hört man munkeln, dass ab Januar Schluss sein soll, mit diesen Konzerten im Spartacus. Wo wir schon bei den kleineren Bands sind, von den Großen reden sie ja eh alle: Es gab in diesem Jahr viel Gutes zu sehen und vor allem zu hören. Die Saturday-Fight-Club-Serie im Lindenpark. Dawnrise und badPGvoc, Ortega und Loosavanna beim Landesrockwettbewerb, sie zeigten, dass der Rock zwar nicht neu erfunden werden, aber mit Frischblut immer wieder wie neu klingen kann. Und so bleibt für die nächsten zwölf Monate die Neugier auf die unbekannten Namen, denn die garantieren mit Sicherheit Überraschungen. Überraschungen von der angenehmen Art.Dirk Becker Hochkarätige Nischenprodukte Wo anfangen, wo enden?! Das breite und vielfältige Musikangebot, mit dem das Kulturland Brandenburg im zurückliegenden Jahr aufwartete, macht ein Resümee nicht eben leicht. Mir hatten es die „Nischenprodukte“ in der Landeshauptstadt angetan, die sich den Kennern und Liebhabern wahrlich zu hochkarätig besetzten Rennern der Saison entwickelten. Schier überlaufen waren Potsdamer Gärten, in denen ich Floras prächtige Kinder bewundern konnte und sogar noch etwas vorgelesen bekam. Ein Schmankerl der URANIA für Herz und Sinne. Die von Nikolaikantor Björn O. Wiede initiierten, auf Erfolgskurs gebrachten Bachtage Potsdam bezogen auch in ihrem dritten Jahrgang fast sämtliche Kirchen der Stadt in ihr genreüberschreitendes Programm ein, verbanden Altes mit Neuem, boten Meisterkurse an. Sehr erfreulich, dass die frühere legendäre Bach-Pflege wieder ein Zuhause hat und ihre musikalischen Muskeln spielen lassen kann. An der Erlöserkirche waren es zwei Ereignisse, die der Erinnerung haften blieben. Zum einen die dito zum dritten Mal veranstaltete, auf hohem künstlerischen Niveau sich präsentierende Vokalwoche „Vocalise 2003“, in der Ud Joffe die menschliche Stimme in all ihren Facetten kontrastreich vorzustellen verstand. Zum anderen der Internationale Orgelsommer Potsdam (Künstlerische Leitung: Matthias Jacob), der mit seinen zwölf Konzerten diesmal vollständig im Gotteshaus in der Nansenstraße stattfand, weil dem Partner Friedenskirche eine neue Orgel (der Marburger Firma Gerald Woehl) ins Haus steht. Wo sich sonst zwischen den beiden Instrumenten interessante Klangvergleiche ergaben, bestimmte die Schuke-Orgel (1964) das musikalische Geschehen. Namhafte Organisten aus dem In- und Ausland gaben ihre prächtig tönenden Visitenkarten ab, stellten neben Standardwerken viele Preziosen aus nationalen Schatullen vor. Etwa vom Letten Peteris Vaks, vom Tschechen Petr Eben oder vom Iren Eric Sweeney. Künstlerische Ausfälle kannte der Orgelsommer keine. Durch seine Angebote auf durchweg hohem interpretatorischen Niveau erwies er sich als bislang beste Ausgabe. Peter Buske „Weiße Fahne“ Wer im Jahr 2003 in Potsdam Kunst sehen wollte, fand eine abwechslungsreiches Angebot. Von den Verkaufsausstellungen wird die „Fenestra“-Schau der Sperlgalerie wegen des Katalogkalenders in Erinnerung bleiben. Anregend die Aktivitäten des Brandenburgischen Kunstvereins, nicht nur die Schau mit großformatigen Drucken Mike Bruchners, ein außerstädtischer Import auch die Skulpturen Hans Schüles im Waschhaus. Zu mehr als einem Besuch lockte die Panzerhalle in ihre mit vielen Arbeiten gut bestückte „Blue Hall“. Und zum Glück nur Augen zwinkernd hisste die umtriebige Kunstschule Babelsberg die „Weiße Fahne“, zeigte auch der Offene Kunstverein seine Flagge, wandelte sich die ruhende Galerie Hüning & Reiprich in einen Projektraum. Für die Stadt wichtig waren die Werkschau Stefan Eisermann im Alten Rathaus, organisiert vom Potsdamer Kunstverein, und das deutsch-polnische Projekt „BilderWechselBilder“ des BVBK zum Jubiläum der Städtepartnerschaft mit Opole. Das künstlerische Potenzial der Stadt bewies das 15-jährige Jubiläum des mehrheitlich von Potsdamern betriebenen Kunsthauses Strodehne ebenso wie die Schauen auf der Freundschaftsinsel und die Tage des Offenen Ateliers. Ein Lichtblick zudem, dass die zum Jahresende schließende Galerie Berliner Impressionisten ab Februar 2004 als Galerie Burstert & Albrecht zeitgenössische Kunst aus Potsdam und Umgebung zeigen wird. Mit diesem guten Pfund sollte bei der Bewerbung zur Kulturhauptstadt klug gewuchert werden. Künstler und Ausstellungsmacher verdienen breite Unterstützung. Götz J. Pfeiffer Überall waren Worte Was ein Jahr an Begegnungen und Ereignisen zusammenträgt, das bekommt man so wenig zusammen wie die gesammelte Influenz eines einzigen Tages. Was war denn wichtig 2003, und für wen? Wo sind Dauer und Beständigkeit, und warum bläst der Wind das Übrige einfach ins Nichts? Vielmals erscholl die Musik aus Kirchen und anderen Räumen, man sah Ausstellungen mancherlei Art, begegnete Leuten vom Film mit Bedeutung. Auch der Vorträge waren genugsam. Und überall Worte, in Potsdam und auf dem Land drumherum. Sie sind das Agens der Zeit, sie wirken (den Noten gleich) im Unsichtbarn, sommers und winters: In Caputh schlug man vor, die erhaltenen Namen deutscher Soldaten des Zweiten Weltkrieges zu tilgen, fast zeitgleich warnte Scholl-Latour im Nikolaisaal vor dem Pulverfass Mittlerer Osten, in Wilhelmshorst zankte man zänkisch um Peter Huchel, während in Potsdam viele der Bombennacht vom April gedachten, es gab dazu gar ein Symposium. Die Literaten reflektierten das Verschwinden der deutschzüngigen Literatur in Rumänien, andere sorgten sich diplomatisch um das Thema Sudeten, nicht ohne Krach. Es gab eine lustlose Lesung mit Mario Adorf im Nikolaisaal, schönere in den Gärten der Stadt (manchmal sogar im Regen), und auch die „Theologie“ war nicht ruhlos, denn zum „Jahr der Bibel“ wurden der Worte viele gewechselt, zu Paulus, Jesaja und Ruth. Was davon bleibt ? Schöne Mittsommernacht in Bornstedt und Petzow, die „Spargelperle“ in Beelitz ging in Betrieb, Jörg Schönbohm mühte sich in der „arche“ um angeblich preußische Tugend: Das Haus am Bassin sucht beständig nach sicheren Werten, z.B. bei einem sensationellen Vortrag zum Thema McKinsey, aus dem hervorging, wie sehr diese Welt von Zahlen beherrscht wird, und durch ihre Adlaten. Kartzow bleibt mit dem Part um Kopisch so gut im Gedächtnis wie das Tropos-Quartett in Caputh, eine Begegnung mit der Heilsarmee so wie die 1. Friedhofsnacht zu Stahnsdorf, die Begegnung mit dem spanischen Schriftsteller Raffael Chirbes und dem irakischen Maler Anad aus Michendorf – der mit den sumerischen Augen. Manchmal bekam man Zuspruch, manchmal Kritik, Lob und Widersatz suchten die Waage, Irrtümer inklusive. Kein Wunder bei so vielen Worten. Was hat man denn anderes getan 2003, als den Augenblick festzuhalten, weil manches Mal naheging, was einen berührte? Gerold Paul

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