Kultur: „Linienuntreue“
Bernd Blumrichs Wende-Bildband über Potsdam, Kleinmachnow und Teltow
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„Gebt mir ein Visa zu meiner Oma Lisa“, „Bei SED und FDJ sitzen Sie in der letzten Reihe“. Sprüche aus einer versunkenen Welt und doch noch in guter Erinnerung. Es waren die letzten Zuckungen der DDR, als solche Slogans Mauerwände füllten. „Linienuntreue“ – Bernd Blumrichs aufwühlende Foto-Text-Dokumentation über Potsdam, Kleinmachnow und Teltow von 1989 bis 1990 – ruft noch einmal das Kribbeln zurück, das entstand, als immer mehr Menschen aus der Starrheit des Systems ausbrachen und ungewohnte Schritte wagten. Zwischen Mut und Angst, Hoffnung und Zweifel bewegten sich die Gefühle, als sie sich zuerst unter das Dach der Kirche, dann auch auf die Straße wagten.
„Es bringt das Herzklopfen und die Atemlosigkeit zurück, mit denen damals so viele DDR-Bürger unterwegs waren zu neuen Ufern. Und dabei war noch gar nicht so klar, wo die eigentlich lagen“, schrieb Matthias Platzeck, der Ministerpräsident des Landes Brandenburg, in seinem Vorwort. Er gehörte damals mit zu den Wendebewegern, die „Argus“-äugig auf dem Pfingstberg ganz praktisch etwas anpackten: Sie begegneten dem Zerfall des Belvederes. Hinter solch“ Idealismus konnte doch nur staatsfeindliches Denken lauern, witterte indes das MfS, und so verwunderte es nicht, dass das kleine Bau-Trüppchen mit der großen Sogwirkung und auch das Plakat des Grafikers Bob Bahra zum 1. Pfingstbergtreffen zum Politikum wurden.
Bernd Blumrich dokumentiert in seinem präzisen Zusammenspiel von Foto und Text, bei dem er oft auf lokale Zeitungsberichte zurückgriff, sehr genau die Ereignisse, die vor 17 Jahren das Eis zum Schmelzen brachten. Der unbestechliche Blick durchs Objektiv zeigt auf unzählige angespannte Gesichter, die sich am 4. Oktober 1989 in der kleinen Babelsberger Friedrichskirche drängen. Sie haben einen Platz ergattert, während Tausende andere trotz massivem Polizeieinsatz draußen in der erwartungsvollen Masse ausharren. Schließlich wird spontan eine zweite Veranstaltung von Pfarrer Stefan Flade ausgerufen. Auf dieser ersten öffentlichen Großveranstaltung der Bürgerbewegungen in Potsdam verliest Annette Flade den Aufruf des Neuen Forums, den in kurzer Zeit Hunderte couragierter Menschen in der ganzen Republik unterzeichneten. Erinnert wird an den brutalen Polizeieinsatz am 7. Oktober auf der Brandenburger Straße, an das öffentliche Anprangern des Wahlbetrugs und schließlich an das Unfassbare: an den Mauerfall.
Höchst interessiert blättert man sich durch die Ereignisse, schaut gespannt in bekannte Gesichter, die damals zu den Motoren des Aufbruchs gehörten und heute fast alle weiterhin politisch eingebunden sind. Einige nunmehr demokratisch gewählt. In diesen Fotos geht es nicht um große Kunst, sondern um das Unwiederbringliche des Augenblicks: Um Lichter tragende Menschenketten, Soldaten, die mit Bagger und Bohrer gegen den Beton angehen, den Ulbricht für die „Ewigkeit“ quer durchs Land auftürmen ließ. Fassungslos hält sich eine Frau die Hand vor dem Mund, während sie in der Bertini straße durch das Loch in der Mauer auf die Weite des Jungfernsees schaut. Postentürme werden zu Aussichtspunkten in ein noch wenig bekanntes Land. Und endlich gibt es auch wieder eine direkte S-Bahn-Verbindung von Potsdam nach Berlin. Die Ereignisse überschlagen sich – und wieder hält man den Atem an.
Natürlich hielt der Kleinmachnower Fotograf auch vor der eigenen Haustür die Kamera mitten hinein in die Ereignisse, ist zur Stelle, wenn sich das Neue Forum formiert, die ZK-Sonderschule nunmehr vom Volk besetzt wird. Neben den vielen Schnappschüssen gibt es in diesem im Lukas Verlag erschienenen Buch auch ästhetisch sehr anspruchsvolle Fotos, wie das von der Grenze entlang der Schwanenallee, den Blick durch den Stacheldrahtzaun am Schloss Babelsberg oder das von der verträumten Glienicker Brücke fünf Jahre nach dem Mauerfall.
„Mit dem heutigen Wissen um die Dinge war absehbar, dass die ungeheuren Erwartungen und Sehnsüchte nach einer grunddemokratischen gerechten Welt nicht gänzlich erfüllt werden konnten. Ich wünsche den Betrachtern und Lesern dieses Buches, dass nicht Wehmut und leise Enttäuschung überwiegen, sondern der Optimismus und die Hoffnungen der damaligen Zeit in unser heutiges Leben einfließen“, schrieb Kleinmachnows Bürgermeister Wolfgang Blasig begleitend ins Buch. Gerade auch diese Schwarz-Weiß-Fotos sind ein untrügerischer Erinnerungspflock gegen jede Art von Verklärung. Heidi Jäger
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