„Tatort: Schlachtfeld“ im Hans Otto Theater: Mehr Aufklärung, bitte!
„Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule“, notierte Franz Kafka am 2.
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„Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule“, notierte Franz Kafka am 2. August 1914, dem Tag der deutschen Mobilmachung, in sein Tagebuch. Der Erste Weltkrieg veränderte Europa grundlegend und wirkt bis heute nach – und war am gestrigen Sonntag in der Reithalle des Hans Otto Theaters das Thema, als im Rahmen des vierjährigen Projektes „100 Jahre Gegenwart“, das vom Berliner „Haus der Kulturen der Welt“ initiiert wurde, eine Schauspielerlesung und ein Expertengespräch stattfanden. „Tatort: Schlachtfeld“ titeln die Veranstalter in bester Krimimanier, und so ganz weit hergeholt ist die Tatort-Allegorie auch gar nicht, von Rostock bis München werden die TV-Kommissare bundesweit auf die Bühnen geholt. Auch hier in Potsdam: Jörg Schüttauf war von 2001 bis 2010 Tatort-Ermittler Fritz Dellwo in Frankfurt an Main, Maria Simon übernahm 2011 die Rolle der Polizeiruf-110-Ermittlerin Olga Lenski, mittlerweile in Frankfurt an der Oder.
Literarische Momentaufnahmen zeugen von einer Kriegsbegeisterung, die uns heute befremdlich erscheinen sollte, wenn sich nicht bisweilen, 100 Jahre später, eine seltsame Parallelität entwickeln würde. „Langweilig!“, begehrte etwa Georg Heym 1910 auf, „Warum ermordet man nicht den Kaiser oder den Zaren?“ Gerade die geistige Elite erfasste der Kriegshunger, Ernst Lissauer, den Stefan Zweig als „der preußischste Jude, den ich kannte“ beschrieb, verfasste gar einen „Haßgesang auf England“, den Schüttauf lakonisch vortrug. Die Kriegsbegeisterung, die den Frühexpressionismus charakterisierte, kippte jedoch schnell ins Gegenteil, gerade Künstler, die enthusiastisch in den Krieg zogen, kehrten entweder gar nicht oder als Pazifisten zurück: „Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?“, notierte Ernst Jünger 1917 in sein Kriegstagebuch. Und als Schüttauf aus Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ von der Gnadenlosigkeit eines Giftgasangriffs las, musste Simon erst durchatmen, bevor sie ihren Text beginnen konnte.
„Vielen war die Kriegsbegeisterung später peinlich“, sagte Ernst Piper, Privatdozent an der Universität Potsdam und Autor des Buches „Nacht über Europa: Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs“, im anschließenden Gespräch mit ZDF-Moderator Christhard Läpple und dem Linke-Politiker Norbert Müller. Aber diese Euphorie, dieser Patriotismus waren kennzeichnend für den Aufbruch in die Moderne, so Piper, der selbst als „Jung-68er“ den Kriegsdienst verweigert hat. Sein Großvater, der Gründer des Piper Verlages, habe mit Bildbänden über das Kriegsgeschehen sogar gut am Krieg verdient. „Ich kann nicht mit Ordensträgern in der Familie dienen.“
Ganz anders Norbert Müller: Der Bundestagsabgeordnete kommt aus einer Soldatenfamilie, sein Vater war Offizier – und er selbst bekennender Pazifist. Seitdem er 1999 als 13-Jähriger mitbekam, wie die ersten Tornado-Jets vom Flughafen Rostock-Laage aus gen Balkan starteten, lehne er militärische Gewalt kategorisch ab. Und Müller sah diese Ablehnung schon damals bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs: „In den Arbeiterfamilien gab es eine Resistenz, die Begeisterung war mehr bei der geistigen Elite zu finden.“
So weit weg sei der Erste Weltkrieg heutzutage jedenfalls nicht, da waren sich beide recht einig – auch wenn die Europäische Union 2012 den Friedens-Nobelpreis verliehen bekam. „Völlig zu Unrecht“, sagt Müller, aber für harte Worte ist der Politiker ja bekannt, seitdem er 2014 den Deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck als „widerlichen Kriegshetzer“ bezeichnete und dafür reichlich Schelte kassierte. Wie er denn heute dazu stehe, wird er von Moderator Läpple gefragt. „Ich hätte widerlich durch gefährlich ersetzen sollen“, ist die Antwort. Die EU schotte sich ab und rüste sich hoch, dabei werde der Krieg außerhalb Europas getragen, nach Mali etwa. Es gebe eine „Enttabuisierung des Militärischen“, die ihm Sorge bereite, und für die gerade Gauck sinnbildlich stehe. Doch da hält Historiker Piper dagegen: So wenig Rüstung hatte Deutschland noch nie, er sehe eher den erstarkenden Nationalismus als europäische Bedrohung, die Europabegeisterung nehme ab, das alles spiele doch der Putinschen Politik in die Hände. „Brauchen wir mehr Europa oder fallen wir zurück?“, fragt Läpple zum Abschluss. „Keiner will einen Krieg auf europäischem Boden“, bilanziert Piper. „Die Frage, ob wir mehr Europa brauchen, müsste eigentlich anders lauten“, sagt Müller. „Nämlich ob wir mehr Aufklärung benötigen.“Oliver Dietrich
Oliver Dietrich
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