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Kultur: Über das Leben am seidenen Faden

Seit acht Jahren wohnt der Schweizer Schriftsteller Silvio Huonder in Ferch: „Es war wie ein Nachhausekommen“

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Es sind Appetithäppchen, die auf den Magen schlagen. Auf nur wenigen Seiten erzählt Silvio Huonder von menschlichen Abgründen, die den Leser mit hinabziehen. Seine Helden führen ein Leben am seidenen Faden. Da geht es um Selbstmordgefährdete und Demenzkranke, um Stalker und Schiffbrüchige, einsame Hausmänner und bedrohte Schwangere. Die Kurzgeschichten des Fercher Schriftstellers in seinem neuem Buch „Wieder ein Jahr, abends am See“ lesen sich wie Krimis und erzählen doch über Menschen aus der Nachbarschaft. Wie über den alten Mann, der mit Raffgier alles zusammenhielt und dem am Ende das Leben wie Honig zwischen den Fingern zerrinnt.

„Und wenn man auch auf alles gefasst ist und überall das Schlimmste erwartet, geschieht es letzten Endes doch an einem ganz anderen und unerwarteten Ort“, lässt der Autor eine seiner Figuren sagen. Und spricht damit auch über sich selbst. So wie die Neugier ihn zu seinen Geschichten treibt, ist es zugleich die Ängstlichkeit, dass das Leben kippen könnte. „Jemand mit starker Fantasie kann sich auch sehr viel Schlechtes vorstellen. Aber ich hoffe: ,Benannt ist gebannt“.“

In seinem nächsten Roman, der im kommenden Frühjahr erscheinen soll, geht es erneut um innere und äußere Verfolgung. „Er spielt im Umland von Potsdam und erzählt von stadtflüchtigen jungen Familien.“ Silvio Huonder schaut hinter die Idylle und heftet sich an die Fersen eines Kindes, das nach dem Klavierunterricht verschwunden bleibt. „Ich schreibe aus meinem Alltag heraus. Dort beobachte ich vermehrt, wie viele Ehen auseinandergehen, wie viele Partner sich betrügen. Man findet im Bekanntenkreis kaum jemanden, der gelassen und glücklich miteinander lebt. Was ist es, das die Leute umtreibt und sie nicht ruhig werden lässt?“

In den kommenden drei Wochen hat Silvio Huonder ausreichend Zeit, darüber nachzudenken, denn seine Frau und die beiden Söhne machen derzeit Ferien bei der Familie in der Schweiz. Dort, in der Kleinstadt Chur, ist der 54-Jährige aufgewachsen. In der gleichen Stadt wie Guido Huonder, dem einstigen Potsdamer Intendanten, mit dem er aber nicht verwandt ist, wie er auf die ihm oft gestellte Frage betont.

Dass Silvio Huonder Graubünden den Rücken kehrte, hing vor allem mit der Sprache zusammen. „Bei uns wird Schweizer Deutsch gesprochen. Wenn ich auf Hochdeutsch geschrieben habe, war das für mich, als wenn ich fremde Kleider überstreife.“ Aber auch die geistige Enge trieb ihn in die Ferne. „Gerade in der Jugend, wo man versucht, sich zu finden, ist es wichtig, dass man sich nicht beobachtet fühlt. Ich sehe da bestimmte Parallelen zur DDR: die gegenseitige Kontrolle und Selbstkontrolle, die bis ins Private hinein geht. Nicht zufällig kam es zum Ende der DDR auch in der Schweiz zu einem großen Skandal. Es wurde öffentlich, dass viele Bürger, die politisch links und alternativ waren, auf Mikrofiches aktenkundig gemacht wurden.“ Sicher hatte auch Silvio Huonder seine Eintragung. Schließlich war er Militärdienstverweigerer. „Meine viermonatige Grundausbildung habe ich noch absolviert und auch drei Nachfolgeeinsätze. Aber im vierten Wiederholungsjahr bin ich desertiert.“ Schließlich musste jeder Schweizer jedes Jahr drei Wochen Militärdienst leisten: bis er 37 Jahre alt war. Und auch danach wurde er im größeren Abstand zu Landwehr und Landsturm eingezogen. Zehn Monate Gefängnis wurden Silvio Huonder für seine Verweigerung auferlegt. Doch der 24-Jährige entging der Strafe, die er mit Kriminellen im normalen Strafvollzug absitzen sollte. „Drei Jahre tauchte ich unter, wohnte und arbeitete nur noch schwarz.“

Silvio Huonder war wohl auch sonst nicht der gewünschte Schweizer Musterknabe, der brav seinen Weg geht. Bis er die Literatur zu seinem Beruf machte, probierte er sich in den verschiedensten Bereichen aus: Er versuchte sich in Germanistik und Kunstgeschichte und auch in der Veterinärmedizin. „Ich roch überall ein paar Semester rein.“ Bis es ihn nach Graz an die Kunsthochschule zog. „Eigentlich hätte ich dort gern Regie studiert, doch mit Ende 20 traute ich mir das noch nicht zu.“ Für“s Bühnenbild reichts immer, sagte er sich, zumal er sehr gut zeichnen und gestalten konnte. In dem beschaulichen österreichischen Graz, das für ihn mit Potsdam vergleichbar ist, lernte er auch seine Frau kennen, die Schauspiel studierte. Er selbst wurde dann doch Regisseur, als er das Diplom als Bühnenbildner in der Tasche hatte. Für das junge Paar stand bald fest, dass es in das quirlige Berlin übersiedeln möchte: „In die Anonymität, wo es niemanden interessiert, ob du im Pyjama oder mit Krawatte morgens zum Zeitungskiosk gehst.“

Sie kamen 1989, mitten in der Wendezeit. Auch für Silvio Huonder war es ein Aufbruch: Hinein in die Literatur, die er vor Jahren beiseite geschoben hatte. Er studierte an der Hochschule der Künste bei Heiner Müller Szenisches Schreiben. „Ich hatte ein sehr ambivalentes Verhältnis zu ihm. Er war mir als Autor und auch biografisch fremd. Sein Ansatz zu schreiben war ein politischer, meiner ein persönlich-privater. Aber ich lernte an seinen Texten, wie man mit Sprache umgehen kann, was sie zu leisten imstande ist. Er selbst blieb immer sehr kryptisch, war eher das Aushängeschild der Hochschule als der brillante Pädagoge.“ Dem Grübler Huonder, der dazu neigt, alles zu analysieren, hielt Müller nur entgegen: „ Analyse ist sinnlos!“

Der Schweizer Autor fand in Johannes Bobrowski seinen Lehrmeister. „Die ersten Seiten aus ,Levins Mühle“ haben einen Knoten in mir gelöst. Bobrowskis Gedanken zum Akt des Schreibenwollens waren wie eine Offenbarung.“ Sein erstes und zugleich persönlichstes Buch „Adalina“ erschien 1997, ein Jahr später „Übungsheft der Liebe“. Danach sollten acht Jahre verstreichen, bis „Valentinsnacht“ heraus kam. „Als wir wegen der Kinder im Jahr 2000 nach Ferch zogen, griff ich erstmal zur Maurerkeller. Wir hatten keine finanziellen Mittel und mussten unsere Bauruine selbst bewohnbar machen.“ Da aber schon sein Vater und Großvater als Maurer arbeiteten, war das für ihn kein fremdes Metier. „Erst vor zwei Jahren bin ich wieder in einen guten Schreibrhythmus gekommen.“

Außerdem versucht er als Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, seinen Studenten das zu geben, was er selbst bei Heiner Müller nicht mitbekam. „Seit einem Jahr bin ich festangestellt und muss jede dritte Woche dort sein. Anfangs ging das ständige Hin- und Herfahren an die Substanz und ich packte schon drei Tage vorher die Tasche. Reisen war für mich ein Riesenereignis. Inzwischen sehe ich es als mein Fitnessprogramm und packe die wichtigsten Sachen in nur drei Minuten.“

Doch am liebsten sitzt Silvio Huonder in Ruhe an seinem Schreibtisch, diszipliniert zwischen 7 bis 15 Uhr, bis die beiden Söhne aus der Schule in Potsdam kommen. „Ferch war nach dem hektischen Leben in Friedrichshain für uns ein wahnsinniger Bruch und Kontrapunkt. Hier ist nun alles überschaubarer. Man kennt die Leute und ihre Geschichten. Es ist wie ein Nachhausekommen.“

„Wieder ein Jahr, abends am See“ erschien bei Nagel Kimche.

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