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Diskussion zu 100 Jahre Erster Weltkrieg: Was 100 Jahre verändern
Der Historiker Christopher Clark und der Vorsitzende der Europaparlaments, Martin Schulz, diskutierten die politischen Parallelen zwischen 1914 und 2014.
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Es ist verlockend: Vor 100 Jahren brach der Erste Weltkrieg aus, jetzt, in der aktuellen Krise um Russland, die Ukraine und die Krim ziehen viele Parallelen zur politischen Situation vor 1914. Um eben diese Analogien ging es am Mittwochmittag im Nikolaisaal. Dort diskutierten Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, und der Historiker Christopher Clark über „1914/2014 – Vom Ersten Weltkrieg zur neuen Friedensordnung“.
Klar war für beide: Auf den ersten Blick mag es sich aufdrängen, Vergleiche zu diesem Schicksalsjahr zu ziehen. Bei genauerem Hinsehen habe sich in den vergangenen 100 Jahren aber viel verändert – diplomatisch und ökonomisch. Die Kultur des Umgangs miteinander – nicht nur auf politischer Ebene – ist heute eine andere. Das liegt, so die beiden Experten, vor allem auch am Projekt EU, durch das ein Krieg zumindest zwischen den europäischen Nationen heute quasi unmöglich sei.
Aber zumindest eine große Parallele gibt es dann doch: „Die Welt vor 1914 war multipolar, komplex, unübersichtlich – und deshalb geprägt von vielen Unsicherheiten“, sagte Schulz. Und das ist sie heute, im Angesicht von Globalisierung und Finanzkrise, wieder. In den Jahren dazwischen, die Schulz ein Zeitalter der Extreme nennt, war die Welt geprägt durch die Erfahrung des Nationalsozialismus und den Kalten Krieg eine bipolare. Die Fronten waren klar, Kommunismus oder Kapitalismus, dazwischen gab es wenig.
Derzeit aber sortierten sich Machtverhältnisse neu – nicht nur im Russland nach dem Ende der Sowjetunion, auch etwa die Türkei schwanke zwischen ihrem Wunsch, zur EU zu gehören und – nachdem diese Hoffnung immer weiter schwinde – dem Versuch, sich als Regionalmacht zu etablieren.
Sehr viel tiefer, sagte Clark, reichen die Ähnlichkeiten dann aber nicht. Weltreiche, wie sie um 1914 sowohl Russland als auch Frankreich und Großbritannien waren, gebe es heute nicht mehr und auch die schlafwandlerische Art, mit der diese Großmächte damals auf die Katastrophe des Krieges zutaumelten, sei heute nicht mehr vorstellbar. Das Gefährliche damals, sagte Clark, sei eben diese Paranoia der Staaten gewesen, diese Angst, abzusteigen, Macht zu verlieren. Die EU aber sei heute ein in sich stabiles Konstrukt – während man Putins Politik allerdings auch als eine der Schwäche interpretieren könne. Für den Historiker liegt die aktuelle Gefahr aber nicht darin, erneut mit geschlossenen Augen in einen Krieg zu stolpern – sondern eher darin, keine klaren Signale zu empfangen: „Wofür sind wir bereit, uns einzusetzen?“
Anders gesagt: Die Welt mag heute ebenso unübersichtlich wie um 1914 sein, aber anders als damals sind sich die meisten Politiker heute der Komplexität der Verhältnisse bewusst. Die diplomatischen Bemühungen mögen – von außen betrachtet – oft zäh oder ergebnislos sein oder wie Schulz es ausdrückt: „Die EU mag einem manchmal zu den Ohren herauskommen vor Ärger – sie ist aber wahrscheinlich das Beste, was diesem Kontinent je passiert ist.“
Ganz frei von Provokationen ist die Politik trotz aller Diplomatie aber auch heute nicht: Finanzminister Wolfgang Schäuble verglich in der aktuellen Krim-Krise Putin mit Hitler, US-Präsident Obama nannte die russische Konföderation in diesem Zusammenhang eine Regionalmacht. Eine Beleidigung für Russland durch die USA, die – zumindest in Schulz Augen in den vergangenen Jahren selbst von Abstiegsängsten verunsichert wurden? Oder eine kluge Wortwahl von Obama? So wollte es Moderator Frank Schirrmacher, Journalist und Mitherausgeber der „FAZ“, verstehen: „Man könnte das auch – vor dem Hintergrund des Kalten Krieges – als ein Statement lesen, dass dies nicht die Zeit ist, Supermächte gegeneinander in Stellung zu bringen.“
Das brachte Schirrmacher auf einen weiteren Unterschied zu 1914, der die aktuelle Situation aber potenziell verschärft: „Wir leben heute im Zeitalter von Atomwaffen, die das Gleichgewicht der Kräfte noch einmal neu definiert haben.“
Hinter allem steht natürlich die Frage, ob im Streit um die Zukunft der Ostukraine überhaupt jemand komplett recht hat, ob das alte Schwarz-Weiß-Denken überhaupt noch weiterführt. Dass die Annexion der Krim völkerrechtswidrig war, darüber waren sich Clark und Schulz einig – trotzdem fand zumindest Clark es interessant, wie tief die EU hier in die Transformation der Ukraine eingegriffen habe. Sich als EU einem echten Dialog mit Putin zu verweigern, hielten beide Experten für wenig klug – auch, wenn er innenpolitisch autoritär handle und ein Gesellschaftsbild vertrete, mit dem die allermeisten Westeuropäer nichts mehr anfangen könnten, gebe es gemeinsame Interessen – etwa die Energiepolitik, sagte der Pragmatiker Schulz.
Man könnte diesen Pragmatismus ablehnen, aus ideellen Gründen darauf beharren, mit jemandem, der nicht demokratisch agiert, auch nicht zu verhandeln. Wenn aber die Parallele zu 1914 eben die ist, dass die Welt damals wie heute komplex und multipolar ist, müssen alle Beteiligten vielleicht auch Differenzen aushalten und trotzdem miteinander reden, auf Augenhöhe. Das gelinge aber nur, wenn die EU in ihrer Komplexität geschlossen auftrete, schwenkte Schirrmacher zum Schluss auf die bevorstehende Europawahl am 25. Mai. Um extremen und EU-feindlichen Parteien den Einzug ins Parlament zu erschweren, müssten viele Wähler ihre Vertrauenskrise zu dem oft intransparenten Apparat überwinden – und überhaupt zur Wahl gehen.
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