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Kultur: „Wir haben nicht genügend Opfersinn“
Herfried Münkler, der am heutigen Donnerstag in Potsdam spricht, über das Phänomen Krieg
Stand:
Herr Münkler, ist, vor allem mit Blick auf den Ukrainekonflikt, militärische Gewalt wieder ein attraktives Mittel, um Politik zu machen?
Es gibt jedenfalls ein paar Akteure, die das glauben. Aber die haben in ihrem Portfolio nichts anderes als militärische Macht. Ihnen fehlt die ökonomische und die kulturelle oder ideologische Macht. Multipliziert man die militärische, die ökonomische und die ideologische Macht, so entsteht politische Macht. Wem aber die ökonomische und ideologische Macht fehlt, der hat eine gewisse Neigung, mit militärischer Macht zu agieren. Das gilt zweifellos für Putin und seine Entourage.
Putin erscheint in seinem Handeln vielen wie als Rätsel. Was für ein politischer Mensch ist er?
In sein Herz oder seinen Kopf hineinschauen kann von uns ja keiner. Und schon früher haben die Kremlexperten sich in ihren Einschätzungen genauso oft getäuscht, wie sie recht gehabt haben. Bei Putin ist es wirklich schwer. Es gibt drei Modelle, mit denen man ihn erklären kann. Putin 1: Er will Russland wieder als eurasische Macht herstellen und hat sich nun auf den Weg gemacht, das schrittweise umzusetzen. Er agiert offensiv. Putin 2: Er fühlt sich eher in der Defensive, hat aber begriffen, dass die Nato im Prinzip Länder mit ungeklärten territorialen Fragen nicht aufnehmen kann. Das Modell hat sich in Georgien bewährt, wo er solche ungeklärten territorialen Fragen geschaffen hat. Das Gleiche möchte er jetzt auch in der Ukraine machen. Das heißt, er agiert nur in den unmittelbar an Russland grenzenden Bereichen und in Ländern, die noch nicht Mitglied der Nato sind. Putin 3: Er handelt vor allem unter innenpolitischem Zwang, denn er hat beobachtet, wenn er einen kleinen und schnellen Krieg führt und diesen gewinnt, sei es in Tschetschenien, in Georgien oder jetzt mit der Annexion der Krim, wächst sein Ansehen innerhalb der Bevölkerung enorm. Wer Putin nun aber wirklich ist, das bleibt schwierig zu sagen, denn er bewegt sich auch immer zwischen diesen Modellen.
Sie haben in diesem Jahr mit „Der Große Krieg. Die Welt von 1914 bis 1918“ eine Analyse über den Ersten Weltkrieg veröffentlicht und wiederholt gesagt, dass die Situation im Jahr 2014 der Situation von 1914 ähnelt. Was meinen Sie damit?
Wenn man historische Vergleiche anstellt, beobachtet man immer Ähnlichkeiten und Unterschiede. Die Ähnlichkeiten bestehen darin, dass die Ukraine kein in sich geschlossener Nationalstaat ist, sonder Bestandteil eines postimperialen Raumes. Im Westen und in der Mitte der Ukraine gibt es starke Neigungen, sich an dem Westen zu orientieren, im Osten dagegen beobachten wir Anhänglichkeiten an Russland. Diese unterschiedlichen Neigungen haben auch vor der Julikrise von 1914 auf dem Balkan eine starke Rolle gespielt. Hinzu kam der Zerfall des Osmanischen Reiches, also der Zerfall eines Großreiches. Es bildeten sich mit Serbien, Bulgarien, Rumänien und Griechenland Staaten mit nationalen Ansprüchen, die immer größer sein wollten, als sie tatsächlich waren. Daraus entstand eine ausgesprochen heikle Gemengelage, in der Ansprüche wie Frieden und Selbstbestimmungsrecht ständig miteinander kollidierten. Das sind die Ähnlichkeiten. Aber es gibt auch zahlreiche Unterschiede.
Worin liegt der wichtigste Unterschied?
Es gab 1914 in Europa einige Akteure, die den Konflikt auf dem Balkan als einen willkommenen Anlass begriffen haben, noch ganz andere Fragen mitzuverhandeln, also den Konflikt zu entgrenzen. Heute dagegen sind alle beteiligten Mächte daran interessiert, den Konflikt in der Ukraine lokal zu begrenzen.
Besteht trotzdem die Gefahr, dass aus diesem lokalen Konflikt ein großer Krieg entstehen kann?
Das würde ich verneinen. Denn wir, West- und Mitteleuropa, sind postheroische Gesellschaften. Das heißt, wir haben nicht genügend Kinder und auch nicht genügend Opfersinn, um in einen solchen Krieg zu ziehen. Und Russland ist ökonomisch viel zu verwundbar, als dass es sich darauf einlassen würde. Gleichwohl ist Russland noch immer eine Atommacht. Heute agieren alle Politiker in Europa viel zurückhaltender, viel vorsichtiger als es in der Julikrise 1914 der Fall gewesen ist.
Eine andere Form der kriegerischen Auseinandersetzung, mit der Europa konfrontiert wird, ist der Terror des selbst ernannten „Islamischen Staates“.
Dort haben wir es vor allem mit einem religiösen Feuer zu tun. Und Religionen waren schon immer Bewirtschafter des Opfergedankens für etwas Höheres.
Ein religiöses Feuer, das auch Menschen aus Europa für diese Terrorherrschaft begeistert.
Einige Männer aus unseren Gesellschaften fühlen sich unter anderem auch deswegen angezogen, weil postheroische Gesellschaften nicht alle Bedürfnisse nach maskuliner Selbstverwirklichung befriedigen können. Dort aber können sie sich ihren testosterongestützten Allmachtsfantasien mit der Vorstellung, eine große Tat zu vollbringen, hingeben. Bei anderen spielt religiöser Opfersinn die zentrale Rolle. Wir haben es mit einem neuen Typ internationaler Brigaden zu tun, diesmal nicht republikanisch-sozialistischer, sondern islamistisch-dschihadistischer Art.
Wie können postheroische Gesellschaften darauf reagieren?
Der Krieg an der Peripherie Europas fordert uns in vielfältiger Weise heraus. Da sind die Rückkehrer, die den Terror in Form von Anschlägen hier weiterführen wollen. Dann ist es möglich, dass dortige Konflikte auf unsere Gesellschaft übertragen und hier ausgetragen werden.
Nennen Sie bitte ein Beispiel.
Wenn bei Demonstrationen Jesiden auf Islamisten treffen und es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt, wie inzwischen bereits geschehen. Am meisten aber fordern uns die gewaltigen Flüchtlingsströme heraus, die aus diesen Kriegen entstehen und von denen nur ein Bruchteil nach Europa gekommen ist. Die Massen befinden sich ja in der Türkei, im Libanon und Jordanien. Hier besteht die Gefahr, dass kleine Gesellschaften, wie der Libanon und Jordanien, dadurch destabilisiert werden und auseinanderbrechen. Wir müssen für eine Stabilisierung dieser Räume sorgen, wenn sich die aktuellen Flüchtlingszahlen nicht vervielfachen sollen, was zu einer Zerreißprobe für unsere eigene Gesellschaft würde. Dazu gehören unter anderem Waffenlieferungen an die Kurden, aber auch humanitäre Hilfe für die Flüchtlingslager.
Haben wir zu lange bei diesen lokalen Konflikten weggeschaut?
Postherorische Gesellschaften neigen dazu, wenn sie mit Gewalt konfrontiert werden, mit mürrischer Indifferenz wegzuschauen. Wir verstehen das nicht, können nicht nachvollziehen, warum die das machen. Und dann haben wir eine Reihe von Vokabeln bereit, die von Barbarei bis zu religiösem Fanatismus reicht und im Grunde das bezeichnet, was in unseren Augen irrational ist. Insofern verdrängen wir diese Kriege und Katastrophen. Erst wenn die Zahl der Flüchtlinge und Asylanten nach oben schnellt, betrifft uns das.
Bei den Terrorbanden des „Islamischen Staates“ ist das aber nicht mehr der Fall.
Der IS hat erkannt, dass postheroische Gesellschaften durch Bilder von besonderer Grausamkeit angreifbar sind. Aus diesem Grund stellt er gelegentlich Enthauptungsvideos ins Netz. Eigentlich um den Amerikanern und Europäern zu sagen: „Haltet euch hier raus und lasst uns machen! Und wenn ihr euch einmischt, in welcher Form auch immer, und sei es, indem ihr Entwicklungshelfer schickt, dann müsst ihr es aushalten, dass wir sie enthaupten!“
Es geht dem IS nur darum, in Ruhe gelassen zu werden?
Zum jetzigen Zeitpunkt ja, denn der IS strebt die Errichtung eines Kalifatsstaates in der Levante an. Insofern beschränken sich die Auseinandersetzungen auf die Region und die Heiligen Stätten. Wir sind dabei freilich durch die Ströme von Erdöl und die Ströme von Flüchtlingen involviert. Und es ist nicht auszuschließen, dass dieser Kalifatsstaat irgendwann auch bis nach Südspanien und Sizilien ausgedehnt werden soll. Denn diese Gebiete waren in den Stürmen des Islams im 9. Jahrhundert in deren Hand. Aber in den kommenden Jahren wird das eher ein regionaler Konflikt bleiben.
Das Gespräch führte Dirk Becker.
Herfried Münkler spricht am heutigen Donnerstag um 18 Uhr in der Landeszentrale für politische Bildung, Heinrich-Mann-Allee 107, Haus 17, unter dem Titel „Was aus dem Ersten Weltkrieg gelernt werden kann und was aus ihm (zeitweilig) gelernt worden ist“.
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