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Kultur: Zwischen Wahnsinn und Licht

Braucht das Museum von morgen noch echte Bilder? Die Schau „Van Gogh Alive“ kommt ohne aus

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Er könne nichts daran ändern, dass sich seine Gemälde nicht verkauften, schrieb Vincent van Gogh in einem Brief an seinen Bruder Theo. Er sei sich aber sicher, dass seine Gemälde in Zukunft viel mehr wert seien als die Farbe, die notwendig ist, um sie herzustellen. Wer zu Lebzeiten so spricht, wird leicht für größenwahnsinnig gehalten. Posthum weiß man es besser. Van Gogh zählt heute zu den wichtigsten Malern der europäischen Geschichte. Seine Sonnenblumen und das Bild „Sternennacht“, ein nächtlicher Blick in den Park der Anstalt in Saint-Rémy, in der der Niederländer eine Weile lebte, kennt jedes Kind. Und van Goghs Karriere ist auch 125 Jahre nach seinem Tod nicht beendet. Vor Kurzem erzielte das Bild „L’Allée des Alyscamps“, eine Baumreihe in flammendem Gelb, bei einer Versteigerung in New York einen Preis von umgerechnet 60 Millionen Euro. Das Bild ging nach Asien, ein Sammler dort war bereit, annähernd das Doppelte des Schätzpreises zu bezahlen – und der lag bei 35 Millionen Euro. Führt man sich vor Augen, wie unglaublich schleppend van Goghs Karriere begann – er war zunächst erfolglos als Kunsthändler tätig, bevor er mit 27 Jahren beschloss, den Beruf des Malers zu ergreifen –, dann ist seine Lebensleistung nur noch mehr zu bewundern. Die Ausstellung „Van Gogh Alive“ – eine australische Produktion, die schon in Russland, China oder Israel zu sehen war – will all das verdeutlichen. Ab Donnerstag ist sie in Berlin zu sehen.

Van Goghs Bilder werden auf die sieben Meter hohen Wände in der Alten Münze am Molkenmarkt projiziert, dazu spielt Musik, Zitate aus dem üppigen Briefnachlass van Goghs werden eingeblendet. Wenn man sich überlegt, wie das Museum der Zukunft aussehen soll, wie man die Sehgewohnheiten und die technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts mit historischer Kunst und Sammlungsgegenständen in Einklang bringen kann, dann ist eine Multimedia-Ausstellung ohne greifbare, echte Exponate wohl die Extremausprägung im Feld der Möglichkeiten. Richtige Gemälde gibt es bei „Van Gogh Alive“ nämlich nicht, das Erlebnis ähnelt eher einem Kino- als einem traditionellen Museumsbesuch. Dafür sieht man in 30 Minuten so viele Bilder van Goghs wie sonst wahrscheinlich nur bei Google.

Wollte man einem Kind einen echten van Gogh zeigen, wäre ein Besuch in der Liebermann-Villa am Wannsee eine Option. Dort hängt im Moment zum Beispiel der „Kopf einer Bäuerin“ von 1885, ein Porträt in dunklen Farben, typisch für die Frühphase des Malers, der seinen Stil, seine Farbpalette und seine Motive immer wieder radikal änderte. Wollte man Werke aus allen Schaffensphasen sehen, von den Bauernszenerien über die Blumen und Stillleben bis zu den Landschaften und den scheinbar nur noch aus Farben bestehenden Interieurs, dann müsste man ins Van Gogh Museum in Amsterdam – oder eben demnächst in die Alte Münze.

Wie es ist, wenn die multimedial vermittelte Kunst mit der gebauten Wirklichkeit kollidiert, ist derzeit in Florenz zu erleben. In der Altstadt, nur wenige Schritte vom Dom Santa Maria del Fiore und der Ponte Vecchio entfernt, liegt in einem Hinterhof die entweihte Kirche Santo Stefano al Ponte aus dem 11. Jahrhundert. Die zweifarbigen Fensterbögen der Fassade künden von der Pracht der florentinischen Baukunst. Im Innern dienen die Längs- und die Querseiten des Kirchenschiffs als Projektionsfläche für van Goghs Werke. Zwar sind die Fenster verhängt, die Heiligenbilder abgedeckt. Aber es gibt keine einzige Stelle im Raum, auf der sich van Goghs Sonnenblumen, seine Selbstporträts oder die impressionistischen Landschaften in Gänze ausbreiten könnten, Verzierungen, Säulen und Altarvorsprünge drücken sich in die Lichtprojektion, verzerren die digitalisierten Meisterwerke zu einer eklektizistischen Farbsoße. Keines der Meisterwerke ist komplett zu erkennen. Zwischen Videoclip-Ästhetik und sakralem Raum hat van Goghs Lebensdrama – nämlich die Geschichte des genialen, zu Lebzeiten stets unverstandenen Malers – keine Chance, auch wenn es durch rührselige Musik akzentuiert wird. Wäre diese Ausstellung zu 100 Prozent sorgfältiger gemacht und hätte sie trotz der digitalen Möglichkeiten mehr Mut zur Ruhe, könnte sie vielleicht wirklich für van Goghs Qualitäten als Maler sensibilisieren. Und diejenigen erreichen, die klassische Museumsbesuche öde finden. Gelänge das in Berlin, wäre es im Vergleich zu Florenz ein Quantensprung, ähnlich groß wie van Goghs Neuerungen in der Malerei. Birgit Rieger

Alte Münze, Molkenmarkt 2, ab 21. Mai, So–Do 10–21 Uhr, Fr/Sa 10–22 Uhr

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