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Sport: Auch Ottey könnte ein Opfer sein - Nach einer Reihe von positiv getesteten Athleten diskutieren Wissenschaftler den Grenzwert von Nandrolon

Wer ist der nächste? Wieder ein Brite?

Wer ist der nächste? Wieder ein Brite? Die Briten haben schon Linford Christie beigesteuert, und Doug Walker und Mark Richardson und Marlon Devonish, alles Leichtathleten. Und neben den Sprintern noch einen Stabhochspringer und einen Kugelstoßer und einen Boxer. Oder wird es eine Italienerin sein? Italien bietet bislang die dreimalige Tour-de-France-Siegerin Fabiana Luperini auf. Rumänien ist mit einer Marathonläuferin dabei, die Schweiz mit einem Biathleten und Neuseeland mit einem Schwimmer. Alle mit positiver Dopingprobe, konkret gesagt: zu viel Nandrolon im Urin. Und Jamaika stellt Merlene Ottey, die Sprinterin, positiv getestet am 5. Juli 1999, definitiv suspendiert seit zehn Tagen.

Ottey hatte 21 WM- und olympische Medaillen gewonnen. Das hat sie zur reichen Frau gemacht mit all den Startgeldern und Erfolgsprämien. Dass sie Geld hat, ist wichtig. Gut möglich nämlich, dass sie prozessiert. Vielleicht gibt sie den Anstoß zu einer Prozesswelle, die verschiedene Sportverbände überrollen könnte. Es geht um die Frage, ob mit Nandrolon positiv getestete Athleten zu Unrecht gesperrt wurden. Denn der Nandrolon-Grenzwert ist offenbar ein Problem, er wird diskutiert. Fünf Nanogramm pro Milliliter sind bei Frauen festgelegt, zwei Nanogramm bei Männern. Aber niemand weiß, ob das richtig ist.

Immerhin, es gibt Grenzwerte. Bis 1996 gab es keine. Bis dahin gingen die Wissenschaftler davon aus, dass Nandrolon im menschlichen Körper nicht vorkommt. Eine verhängnisvolle Annahme. Eine Annahme, unter der zwei Jahrzehnte lang Sperren ausgesprochen wurden. Erst 1996 korrigierten sich die Experten, und zwar stillschweigend. Und erst 1999 erschienen dann die ersten spärlichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen über Nandrolon-Abkömmlinge im menschlichen Urin, ganze drei Arbeiten, allesamt aus Frankreich. Untersucht wurden allerdings nur wenige Personen - darunter lediglich eine Frau - und zudem ohne systematische Veränderung der Bedingungen. Bei diesen dürftigen Rahmenbedingungen ließ sich nur eines sicher erklären: Überschreitungen des Nandrolon-Grenzwertes beim nicht-gedopten Menschen sind relativ selten. Aber sie sind nicht ausgeschlossen.

Diese schwache Basis und das Fehlen systematischer Variationen kritisiert denn auch der Molekularbiologe und Doping-Kenner Werner Franke. Der Krebsforscher hat sich mit den krankhaften Geweben, die solche Stoffe produzieren, beschäftigt. "Ich halte die bisher veröffentlichten Arbeiten zur Variation der natürlichen Bildung von solchen Nor-Verbindungen für viel zu dürftig, vor allem um davon ein absolutes Ausschluss-Dogma ableiten zu können, das zur Bestrafung von Menschen dienen soll." Im Klartext: Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass der Körper einer Frau niemals mehr als fünf Nanogramm Nandrolon im Urin produziert. Franke: "Ich kann mir gut Bedingungen vorstellen, etwa in den Follikeln des Eierstocks der Frau, in denen kurzfristig hohe Werte erreicht werden." Damit käme die These von den Dopingsündern ins Wanken.

Solche Zweifel plagen inzwischen auch höchste britische Sportfunktionäre. Der United Kingdom Sports Council, die oberste sportliche Führung auf der Insel, beauftragte 35 Wissenschaftler, die Ursachen von Nandrolon-Funden im Urin zu erforschen. Selbst die französischen Wissenschaftler betonen den unzureichenden Charakter ihrer Studien und fordern umfangreichere Untersuchungen. Auch Wilhelm Schänzer, der Leiter des Kölner Doping-Labors, hat das Internationale Olympische Komitee "schon vor einem halben Jahr darauf hingewiesen, dass die spezielle Problematik mit Nandrolon endgültig eingehend untersucht" werden muss. Franke hatte schon 1995 in einem Gerichtsverfahren im Pariser Justizpalast auf das natürliche Vorkommen von Nor-Verbindungen auch im Menschen hingewiesen: Die 16-jährige französische Jugendmeisterin im Rudern, Elodie Teyssier, war 1990 wegen Nandrolon-Dopings gesperrt und von ihrer Mannschaft geächtet worden. Dabei behauptete das Schulmädchen, nie eine Injektion erhalten zu haben. Und die heute für erhöhte Nandrolon-Werte oft verantwortlich gemachten Ernährungszusätze, die zum Teil Nandrolon-Vorläufer enthalten können, gab es damals noch gar nicht. Teyssier, seelisch gebrochen, leistete einen förmlichen Eid darauf, dass sie nie Nandrolon genommen habe. Kurz nach dem Prozess hörte sie auf mit dem Leistungssport. Bei Teysssier entdeckten Ärzte später einen seltenen Tumor im oberen Nasenbereich.

Und was ist mit Dieter Baumann? In seinem Urin hatte man auch Nandrolon gefunden. Auch ein mögliches Opfer körpereigener Anomalie? Nein. Bei Baumann wurde Nandrolon von außen zugeführt, das steht fest. Ob dies durch die manipulierte Zahnpasta oder eine Medikamenteneinnahme geschah - an der Antwort arbeitet ein Labor.

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