zum Hauptinhalt
Der Rollstuhltennisspieler Adam Berdichevsky trägt bei der Eröffnungsfeier der Paralympics in Paris die Fahne Israels.

© IMAGO/Kyodo News

Aus dem Schutzraum zu den Paralympics: Israels Fahnenträger überlebte den 7. Oktober

Adam Berdichevsky hielt sich am 7. Oktober in einem Kibbuz nahe der Grenze zum Gazastreifen in einem Schutzraum versteckt. Erst nach 14 Stunden wurden er und seine Familie gerettet.

Von
  • Tim Hensmann
  • Benjamin Brown

Stand:

Nach vierzehn Stunden des Horrors kam eine SMS, die eigentlich Entwarnung bringen sollte. Die israelische Armee hatte die Bewohnerinnen und Bewohner des Ortes Nir Yitzhak informiert, dass sie vor Ort war und die Menschen aus ihren Verstecken kommen könnten. Doch beim israelischen Rollstuhltennisspieler Adam Berdichevsky blieb die Unsicherheit groß. Was, wenn Terroristen der Hamas das Handy eines israelischen Soldaten genutzt hatten, um ihn und seine Familie aus ihrem Schutzraum zu locken? Zunächst war sich der 40-Jährige sicher, dass es so sein müsse.

Irgendwann traute er sich dann aber doch nach draußen, an diesem 7. Oktober des vergangenen Jahres, als die radikalislamische Hamas und weitere palästinensische Terrorgruppen im Süden Israels einfiel und dabei rund 1200 Menschen tötete und 251 Geiseln in den Gazastreifen verschleppte.

Draußen Schüsse und Raketeneinschläge

Vierzehn Stunden hatte sich Berdichevsky mit seiner Frau und seinen drei Kindern im engen, kaum beleuchteten Schutzraum seines Hauses im Kibbuz Nir Yitzhak versteckt – einem kleinen Ort, der nur knappe vier Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt liegt.

„Wir sind morgens um 6:30 Uhr aufgewacht“, sagt Berdichevsky dem Tagesspiegel: „Und ich dachte sofort, dass ganz Israel angegriffen wird, von allen Seiten.“ Er bekam WhatsApp-Nachrichten von Nachbarn: Terroristen seien im Ort und würden Häuser angreifen. Während draußen Hamas-Terroristen seinen Kibbuz überfielen, Bewohner entführten und töteten, verbrachte die Familie die Stunden in angespannter Stille in dem Schutzraum, abgeschirmt von der Außenwelt hinter einer schweren Eisentür.

Ich konnte nichts machen, nur beten.

Rollstuhltennisspieler Adam Berdichevsky

In der ersten Stunde habe er noch mehrmals versucht, einen Blick nach draußen zu werfen, um die Lage vor dem Haus einzuschätzen. Er überlegte, mit dem Auto zu fliehen. „Aber wenn wir das getan hätten, wären wir wahrscheinlich tot“, sagt er. Ohne Essen und Trinken hatten sie den Schutzraum betreten, nur mit der Hoffnung, bald in Sicherheit zu sein. „Nur einmal, als ich dachte, es sei sicher, wagte ich mich aus dem Schutzraum hinaus, um Lebensmittel zu holen“, erinnert er sich. Ihre Bedürfnisse verrichteten sie in Plastikbeuteln und -flaschen.

Seine Kinder im Alter von sechs, acht und zehn Jahren verbrachten die meiste Zeit damit, Filme auf einem Tablet zu schauen. „Ich sagte ihnen, dass sie sich unter den Betten verstecken müssten, falls die Angreifer ins Haus kommen sollten“, sagt Berdichevsky. Er hätte währenddessen versucht, die Tür zuzuhalten. Von draußen hörten sie Schüsse und Raketeneinschläge, die bedrohlich nah an das Haus herandrängten. Trotz der ständigen Gefahr „ging alles wirklich sehr schnell“, sagt Berdichevsky. „Wegen des Adrenalins.“ Als die Hamas-Angreifer näherkamen, schalteten sie die Klimaanlage aus, um nicht aufzufallen.

Terroristen im Elternhaus

Im Haus seiner Eltern versuchten währenddessen Terroristen in den Schutzraum zu gelangen. Seine Schwester war dabei. Sie schrieb ihm, bat ihn zu helfen. „Aber ich konnte nichts machen, nur beten“, sagt Berdichevsky. Sein Vater habe die Tür von innen zuhalten können, die Angreifer hätten irgendwann das Haus verlassen. „Sie hatten großes Glück, dass die Terroristen das Haus nicht in Brand steckten, wie sie es an anderen Orten taten“, sagt er in Paris.

Gegen 21 Uhr, Berdichevsky hatte kurz zuvor die Nachricht von der israelischen Armee erhalten, traute er sich aus seinem eigenen Schutzraum. Kurz darauf wurden er und seine Familie mit Bussen in den Süden Israels evakuiert, nach Eilat ans Rote Meer. Auf dem Weg hinaus bot sich ihnen ein erschütternder Anblick: „Überall standen zerstörte Autos, durchlöchert von Kugeln“, sagt er. Später erfuhr er, dass sieben Menschen aus seinem Kibbuz getötet worden waren. Zwei ihrer Leichen wurden zusammen mit fünf lebenden Zivilisten in den Gazastreifen verschleppt.

Neustart in Amerika

Nach zwei Monaten im Süden Israels entschloss sich Berdichevsky mit seiner Familie in die USA zu ziehen – um seinen Kindern ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen und selbst wieder im Rollstuhltennis trainieren zu können. Sein Ziel: Die Spiele in Paris. Auf seinen Trainer, der in Israel geblieben war, musste er jedoch verzichten.

Bei der Eröffnungsfeier der Paralympics am Mittwochabend trug Berdichevsky die Fahne für das israelische Team. Zusammen mit der Goalballspielerin Lihi Ben David führte der Rollstuhltennisspieler das Team an. „Es war eine Ehre für mich, die Fahne zu halten. Vor allem nach dem, was ich durchgemacht habe“, sagt er.

Mit dem Kamel auf den Champs-Élysées

Während der Feier auf den Champs-Élysées wird Berdichevsky von den Kameras eingefangen. In Großaufnahme ist er auf den Leinwänden im Stadion am Place de la Concorde zu sehen. Er nutzt den kurzen Moment medialer Aufmerksamkeit. Mehrfach klopft er sich mit der flachen Hand auf die Brust. Ein kleines gelbes Kamel ist dort angeheftet. Dann richtet er seine Hand in den Himmel – ein stilles, aber für ihn ein bedeutendes Zeichen.

Berdichevsky erklärt, dass er eigentlich eine gelbe Schleife habe tragen wollen – ein Symbol, das für den Wunsch, die übrigen 108 Geiseln aus Gaza nach Hause zu holen, steht. Doch politische Symbole sind bei den Spielen nicht erlaubt. Also wurde es ein Kamelanstecker.

„Zwei meiner Freunde wurden nach Gaza entführt. Sie sind tot. Der Sohn von einem von ihnen hat ein Kamel gebastelt“, sagt Berdichevsky. Es ist auch gelb und symbolisiere seine Solidarität mit den Geiseln. Außerdem sei das Kamel das Symbol seines Kibbuz. „So kann niemand sagen, dass ich dieses Symbol nicht zeigen darf“, sagt er.

Der 7. Oktober ist fast ein Jahr später für Berdichevsky omnipräsent. Der Angriff habe ihn nicht nur persönlich, sondern auch sportlich verändert. „Ich gehe die Dinge ruhiger und gelassener an – ich beurteile Dinge heute viel nüchterner“, sagt er. Für ihn hat der Überlebenskampf die Bedeutung des Sports neu definiert. Niederlagen wirken jetzt weniger wichtig im Vergleich zu den existenziellen Herausforderungen, denen er sich stellen musste. „Es hat mich mental stärker gemacht“, sagt er vor seiner dritten Paralympics Teilnahme: „Alle aus meiner Gegend, die gelitten haben, und die verletzten Soldaten – sie sehen uns und beobachten, was wir trotz unserer Verletzungen leisten können.“ Die Teilnahme sei für Adam Berdichevsky darum dieses Mal viel bedeutender als zuvor.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })