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Von Schumacher bis Lewandowski und Angerer. Ehemalige Fußballer haben oft viel zu erzählen.

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Sport in der Literatur: Warum Fußballer-Autobiografien immer seltener werden

Die irrsten und überraschendsten Autobiografien ehemaliger Fußballer handeln auch vom Leben abseits des Platzes, wie das neue Werk von Dieter Müller.

Seine Kindheit durchzieht eine gelebte Lüge, die der Erzähler in jungen Jahren als Liebe empfindet. Er wird ein Jahrzehnt lang von seinen Großeltern großgezogen, in den Fünfzigern und Sechzigern. Sein Großvater schenkt dem neun Jahre alten Enkel den ersten kostbaren Lederball, den Opa erlebt der als „liebevollen, bescheidenen und fröhlichen Menschen“ mit einer verzierenden Tätowierung am Oberarm.

Erst spät erfährt der Enkel, dass es eine eintätowierte Blutgruppenbezeichnung ist, wie sie von Mitgliedern der SS getragen wurde.

Opa war ein Nazi, der anderen Menschen Gräueltaten angetan hat. Im Reichssicherheitshauptamt in Berlin hat er gearbeitet. „Mein Opa war regelmäßig an der Quelle des Bösen.“ Gesprochen wurde darüber nicht mit dem Enkel. „Wie in vielen anderen Familien legte sich auch bei uns eine Glocke der Sprachlosigkeit über die Kriegszeit.“

Darüber hinweg gekommen ist sein Enkel, heute selbst Großvater, in nunmehr 66 Jahren Leben nicht. „Ich kriege das immer noch nicht zusammen“, schreibt Dieter Müller in seiner Autobiografie „Meine zwei Leben“, die am Freitag erscheint.

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Es ist eine mutige Geschichte eines ehemaligen Fußballstars, der eine große Karriere auf dem Rasen hinlegte in den Siebzigern und Achtzigern. Der bis heute einziger Schütze mit sechs Bundesligatoren in einem Spiel ist, beim 1. FC Köln Doublesieger wurde und als dessen Jahrhundertstürmer gilt.

Interessante Anekdoten hat der Hesse zu erzählen, von Helmut Schön oder dem großen Hennes Weisweiler. In „Meine zwei Leben“ aber ist der Mensch Müller mit seinen tragischen Geschichten beeindruckender als der Fußballer Müller.

Das Leben schreibt die großen Geschichten, der Fußball die kleinen Geschichten – auch wenn sie als Teil des Lebens mal größer ausfallen können und meist die Motivation für verrentete Fußballprofis sind, die Welt nach ihrer glanzvollen oder rumpeligen Karriere noch mit einer Autobiografie zu belohnen. Das macht oft mehr Unsinn als Sinn.

Literarisch salonfähig machte den Fußball Rengs „Traumhüter“

Nach der Laufbahn geraten Profis, wenn sie dann nicht an der Front als Trainer stehen, schnell in Vergessenheit. Das unterscheidet Fußballer von Filmstars, die Karriere auf dem Rasen ist sehr kurz, nur ein Bruchteil eines langen Lebens. Wer dann schreibt, der bleibt etwas länger und hat vielleicht das Glück, sein eigenes Bild heller strahlen zu lassen zu können oder rundet eben seine Geschichte aus seiner Perspektive ab.

Fußball lebt von Aktualität. Was gestern gespielt wurde, ist heute Konserve. Aber auch Konserve kann bewegen, mit dem Blick in die Eingeweide des Fußballs etwa. Wie einst bei Nationaltorwart Toni Schumacher. Dessen „Anpfiff“, noch in der Karriere mit 32 Jahren geschrieben, war eine Abreibung. Aber 1986 war der deutsche Fußball noch nicht reif für „Enthüllungen über den deutschen Fußball“.

Doping, Orgien, Alkohol: Damit war damals bis auf Schumacher – an der empörten Reaktion aus der Szene gemessen–, anscheinend noch kein anderer Fußballprofi in Berührung gekommen. Schumacher hatte das Alles-bleibt-in-der-Kabine-Tabu gebrochen, kam aber nach dem Rauswurf beim FC und Nationalteam über die Türkei und Schalke am Ende trotzdem noch zu einem Karriereende beim FC Bayern.

Der Fußball als literarisches Thema

So ein Buch vergilbt eben zum Glück – das durften auch die Schumacherschen Torwartkollegen Uli Stein (bestes Autobiographie-Zitat: „SK wie Suppenkasper für Beckenbauer“) oder Bodo Illgner erleben. Der ließ mit Frau Bianca den fiktiven Tatsachenroman „Alles“ vom Stapel, der aber wohl autobiographisch gemeint war.

Salonfähig wurde der Fußball als literarisches Thema im deutschsprachigen Raum erst mit dem „Traumhüter“ von Roland Reng, der 2002 Torwart Lars Leese seine sprunghafte Laufbahn erzählen ließ. In jüngeren Zeiten war es die Uli-Borowka-Autobiografie („Volle Pulle: Mein Doppelleben als Fußballer und Alkoholiker“, 2014), bewegend, erfolgreich und gut aufgeschrieben von Co-Autor Alex Raack. Nach diesem Erfolg ist Raack auch mal in die Abteilung Karneval gewechselt und hat mit Mario Basler und seichterem Stoff weniger Erfolg gehabt.

Sicher ist es spannend, wenn man als Bayern-Profi am Morgen vor dem Champions-League-Finale 1999 um 2.30 Uhr an der Hotelbar einen Wodka-Lemon vernichtet, aber weltbewegend ist es eben auch nicht.

Basler hat laut eigener Aussage das eigene Buch nie gelesen, weil er, wie er sagte, sein eigenes Leben ja schon kenne. Andere haben es da genauer genommen, Dieter Müller etwa hat sich für sein Lebenswerk 60 bis 70 Mal mit dem Autor Mounir Zitouni getroffen. Ewald Lienen hat, nach dem die Suche nach einem Co-Autor zu viel Kraft kostete, seine Autobiographie gleich selbst geschrieben. „Ich war schon immer ein Rebell“, erschienen im Dezember 2019, ist erwartbar unterhaltsam – nicht nur für die Menschen, die noch mal das Foul von Norbert Siegmann erzählt bekommen möchten, auch wenn das natürlich eine Rolle spielt.

Die Autobiographie „Meine zwei Leben“ von Dieter Müller erscheint an diesem Freitag im Verlag Edel Books.
Die Autobiographie „Meine zwei Leben“ von Dieter Müller erscheint an diesem Freitag im Verlag Edel Books.

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Niemand kann verlangen, dass Fußballer – selbst mit Hilfestellung – auch gute Autoren sind, insofern sind Biografien oft gelungener als Autobiografien, wie etwa die von Roland Reng über Miroslav Klose. „Miro“ wächst mit jeder Seite, ohne dass ihn der Autor erhöht. Am Ende ist Miroslav Klose viel größer als er jemals auf dem Rasen war, ein großes Märchen mit gutem Ende. So linear nach oben verläuft es in den ebenfalls gelungenen Biografien über Sebastian Deisler („Zurück ins Leben“, 2009) von Michael Rosentritt oder „Auf der Kippe“ von Jan Mohnhaupt (2015) über Michael Tönnies nicht. Hier geht es um Menschen, die am Fußballgeschäft auch ein Stück weit zerbrechen.

Einen Megaüberaufsteiger wie Klose gibt es nicht wieder

Dieter Müller ist mit Co-Autor Zitouni wohl sensibler umgegangen als Basler und hat sich mit ihm für seine große Geschichte entschieden und so fällt sein Buch eigentlich in drei Teile, das Leid des Kriegsenkels, der in unsortierten Verhältnissen aufwächst. Dann den Fußballer, der groß wird, aber nicht der Größte aller Zeiten, dafür gibt es zu viele andere große Mittelstürmer in seiner Zeit. Und dann schließlich Mensch mit Schicksalsschlägen, der seinen 16 Jahre alten Sohn verliert, der seine alkoholsüchtige Schwester verliert, Herzinfarkt und Koma überlebt und am Ende doch Zufriedenheit ausstrahlt, wenn er zurückdenkt.

Vor allem an die Geschichte vom EM-Halbfinale 1976. Eingewechselt in der 79. Spielminute gelang Müller im ersten Länderspiel mit der ersten Ballberührung gleich sein erstes Tor. Schließlich traf er noch zwei Mal – Deutschland siegte nach 1:2-Rückstand 4:2 nach Verlängerung gegen den Gastgeber Jugoslawien. Dank Dieter Müller, der das größte Länderspiel seines Lebens damit schon hinter sich hatte. Dafür schrieb sein Leben noch viele große Geschichten.

Immer weniger Profis mit einer eigenen Geschichte

Die kleinen Abenteuer aus dem Fußball sind sehr wahrscheinlich bald auserzählt. Mit 20 Jahren noch in der siebtklassigen Bezirksliga Westpfalz unterwegs und später Rekordschütze der Nationalmannschaft – so einen Megaüberaufsteiger wie Miroslav Klose lässt das engmaschige Scouting-Geschäft heute kaum zu.

Es werden immer weniger Profis mit einer Geschichte hinter der Profigeschichte groß. Wie Manuel Neuer mal wieder einen Millionendeal mit den Bayern aushandelte oder wie ein dann ehemaliger Star sich durch die Red-Bull-Fußballakademie gewurstelt hat, das wird er wohl nicht einmal schreiben dürfen nach einer Karriere, die von den Klubs in der Bundesliga heutzutage aseptisch glattgebügelt wird. In dem Punkt hat Basler recht, wenn er sagt, das heutige Geschäft sei ihm zu flach und die Spieler lieferten abseits des Platzes zu wenig.

Der Hauptgrund für die wacklige Zukunft von Fußballer-Autobiografien und Biografien liegt aber eher im Desinteresse künftiger Generationen an diesem Format. Auch bei Dieter Müller wird das Lesepublikum ein paar Jahre älter sein.

Wobei: Romantik gab es in der Fußball-Bundesliga früher immer mehr als im nach Desinfektionsmittel miefenden Geisterspieljahr 2020. Gerade daher wäre so eine Geschichte auch für junge Fußballmenschen interessant – weil es sie so nicht mehr geben wird.

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