
© Piri’s Chicken
„Das ist der Vibe, den wir hier wollen“: Wie Berliner das wichtigste Cricket-Spiel des Jahres verfolgen
Die traditionelle, fünftägige Form des Crickets kämpft seit Jahren um Relevanz in der modernen Sportwelt. In Berlin gibt es aber noch Liebhaber des alten, anachronistischen Spiels.
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Am Mittwochnachmittag ist es noch ruhig im „Piri’s“. In dem Burgerladen am Rathaus Neukölln wird die Stoßzeit erst am Abend beginnen. Nun sitzen nur ein paar Kunden auf den Holzbänken, und auch sie blicken nur gelegentlich von ihren Hähnchen-Burgern auf, um das Cricket-Spiel zwischen Australien und Südafrika zu verfolgen.
„Ich zeige das vor allem, weil ich es selbst schauen will. Mal kommen die Leute, mal nicht“, sagt Besitzer und Chefkoch Julian Boyce, der von hinter dem Tresen mit dem Favoriten Australien mitfiebert.
So ruhig ist es wirklich nicht immer, wenn Cricket hier auf der Leinwand läuft. Die Sportart gehört schließlich zu den populärsten der Welt – und weil Piri’s einer der wenigen Orte ist, wo die Spiele live übertragen werden, ist es über die Jahre zu einem Treffpunkt für Berliner aus traditionellen Cricket-Nationen geworden. Zum WM-Finale vor zwei Jahren platzte das Restaurant aus allen Nähten. Für die jubelnden indischen Fans gab es dann Whisky-Shots aufs Haus.
Doch heute läuft nicht die WM, sondern das Finale der World Test Championship – was ähnlich klingt, aber doch ganz anders ist. Hier wird nicht die modernere Kurzform des Crickets gespielt, sondern die traditionelle Variante – das sogenannte „Test Cricket“, wo sieben Stunden am Tag gespielt wird und ein Spiel bis zu fünf Tage dauern kann. „Dieses Spiel ist nuancierter. Um das zu verfolgen, musst du ein richtiger Cricket-Liebhaber sein“, sagt Boyce mit einem Schulterzucken.
Test Cricket kämpft ums Überleben
Mit diesem Problem ist er nicht allein. Während im Kurzformat mittlerweile Millionenbeträge verdient und erzeugt werden, kämpft Test Cricket seit Jahren ums Überleben. In den drei mächtigsten Cricket-Ländern – Indien, Australien und England – wird es immer noch als wichtigste und prestigeträchtigste Version des Spiels angesehen. In anderen wie Südafrika, Pakistan oder auf den Karibikinseln wird es aber immer schwerer, das alte Test Cricket in der modernen Sportwelt zu verkaufen.
Auch deshalb gibt es die heutige Partie. Das WTC-Finale ist eine relativ neue Erfindung des Weltverbands ICC, die etwas mehr Spannung in den Test-Kalender bringen soll. Unumstritten ist sie nicht, doch an diesem Tag scheint das Konzept aufzugehen. Auf der Leinwand in Piri’s kämpft sich Außenseiter Südafrika gerade aus einer hoffnungslosen Position gegen den australischen Goliath zurück ins Spiel. Das begeistert nicht nur Boyce, sondern auch die Tausenden Zuschauer im ausverkauften Londoner Stadion „Lord’s“.
Das Hin und Her dieser Begegnung ist genau das, was Test Cricket so großartig macht. Die Kurzform des Spiels mag zugänglicher sein, doch nur im Test Cricket kommt das idiosynkratische Spiel wirklich zu seinem Recht. Nur hier gibt es Zeit für die endlosen Wendungen und komplexen Nebenhandlungen, die nicht nur von den Spielern bestimmt werden, sondern auch durch Änderungen im Wetter oder im Zustand von Boden und Ball. Es ist das sportliche Analog einer klassischen Sinfonie oder eines großen Werks mittelalterlicher Literatur. Schafft man es, die ganze Komplexität zu durchblicken, gibt es kein besseres Spiel auf Erden.
Auch deshalb begeistert es – trotz des Anachronistischen – noch immer viele Menschen. Menschen wie Ken Powell und Nathan Walk, zwei australische Berliner, die extra nach London gereist sind, um das WTC-Finale im „Lord’s“-Stadion zu sehen.
Australien im altehrwürdigen „Home of Cricket“ spielen zu sehen, sei schon lange auf der „Bucket List“ gewesen, erzählt Powell. Etwas, das er unbedingt tun wollte, bevor er stirbt. Er spricht per Videoanruf von seinem Platz auf der Tribüne, trägt ein T-Shirt des 1. FC Union und eine Kappe der Treptower Knockers, seiner Cricket-Mannschaft in Berlin.
Dass er mitten im Spiel per Video zuschaltet, stört übrigens niemanden. In einem Cricket-Stadion gelten andere Rhythmen als beim Fußball oder selbst beim Tennis. Wenn man sieben Stunden im Stadion sitzt, blickt man nicht ständig aufs Geschehen auf dem Platz. Manche schreiben oder malen, während sie zuschauen. Andere gehen mal für eine halbe Stunde an die Bar. Und andere geben eben auch Interviews.
Das sei auch der Reiz für Julian Boyce. Im Piri’s zeigt er auch Rugby und Hurling, doch beim Cricket sei die Stimmung sozialer. „Wenn wir Cricket zeigen, quatschen die Leute auch mit Fremden um sie herum. Man kommt für ein paar Stunden vorbei, wenn man Zeit hat, und es ist gechillt. Das ist der Vibe, den wir hier haben wollen. Ich will ja kein Fast-Food-Laden sein, wo die Leute schnell rein und raus sind.“
Auch deshalb wird er Cricket weiterhin im Restaurant zeigen – egal, wie viele Leute kommen. In diesem Sommer spielt Australien noch eine Test-Serie gegen die „West Indies“, die frühere Großmacht aus der Karibik – und davor gibt es Spiele zwischen England und Indien. Auch das schaut der Australier gerne, wenn auch mit gemischten Gefühlen. „England kann ich sowieso nicht leiden, aber ich liebe es auch so sehr, Indien verlieren zu sehen“, sagt er mit einem Lachen.
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