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Englands Kapitän Harry Kane könnte durch seinen Treffer gegen Deutschland endlich im Turnier angekommen sein.

© AFP

Englands Kapitän zwischen Brillanz und Bezirksliga: Die Hoffnungen ruhen auf Harry Kane

Gegen Deutschland gelang Harry Kane sein erster Treffer der EM. Das lässt die Kritiker verstummen - dabei muss Kane gar nicht treffen, um England zu helfen.

Jack Grealish konnte sich die kleine Spitze nicht verkneifen. Ob es seinem Kapitän Harry Kane guttun werde, dass er gegen Deutschland sein erstes Tor des Turniers geschossen hatte, wurde der englische Mittelfeldspieler am Donnerstag gefragt. „Klar tut es ihm gut“, sagte Grealish, der Kanes Treffer vorbereitet hatte: „Vor allem, weil ihr Journalisten das ständig zum Thema gemacht habt.“

Mit seinem eleganten Kopfball am Dienstagabend hatte Kane eben nicht nur die Deutschen im Achtelfinale aus dem Turnier geballert, sondern auch seine Kritiker zum Schweigen gebracht. In den ersten Wochen dieser EM musste der England-Kapitän eine Menge Kritik einstecken, weil ihm in der Gruppenphase kein einziger Treffer gelungen war. Manche forderten sogar, ihn auf die Bank zu setzen. Doch nun hatte er endlich sein erstes Tor erzielt – und nun war das Thema erledigt. Nun war er, genau wie seine Mannschaft, so richtig bei der EM angekommen.

Das Tor gegen Deutschland als Erlösung

Vor dem Viertelfinale gegen die Ukraine an diesem Samstag (21 Uhr, ARD und Magenta) hoffen die Engländer nun, dass ihr Kapitän wie entfesselt spielt und den nächsten Schub Richtung Finale geben kann. „Das Tor gegen Deutschland wird für Harry eine Erlösung sein“, sagte Trainer Gareth Southgate und zog den Vergleich zu seinem früheren Teamkollegen Alan Shearer. Der habe vor der EM 1996 auch wegen einer kleinen Torflaute unter Druck gestanden. „Als Alan gegen die Schweiz traf, änderte sich alles“, sagte Southgate.

Je weiter England in diesem Turnier kommt, desto häufiger die Vergleiche mit 1996. Das damalige Sommermärchen, das im Halbfinale gegen Deutschland einen tragischen Schlussakt hatte, will man nun mit einem Happy End wiederholen, vielleicht sogar wiedergutmachen. „Wir wissen, wo wir sein wollen, und es geht nicht nur darum, einzelne Spiele zu gewinnen, sondern das ganze Turnier“, sagte Kane. Dass er nicht mehr so unter Druck steht, kann dabei nur helfen.

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Dass Kane überhaupt so sehr in die Kritik geraten war, ist ohnehin etwas verwunderlich. Er ist ein Weltklassespieler, der in der vergangenen Premier-League-Saison sowohl Torschützenkönig als auch erfolgreichster Assistgeber war. Zudem fiel er bisher auch ohne Tore mit seinen Pässen und seiner Arbeit gegen den Ball positiv auf. „Er ist eben nicht nur ein Torjäger. Er lässt sich auch zurückfallen, spielt Pässe, spielt durch die Beine. Er ist der beste Spieler, mit dem ich je zusammengespielt habe“, schwärmte Grealish am Donnerstag.

Einst wäre Kane fast in Berlin gelandet

Er ist wohl auch der perfekte Kapitän. Denn in keinem Land der Welt wird der Kapitän der Nationalmannschaft derart unter Druck gesetzt wie in England. Was für andere Länder mittlerweile nur eine elastische Binde ist, ist für die Engländer immer noch eine Art heilige Berufung. An diesem Druck sind bisher viele gescheitert, doch Kane spielt die Rolle in Perfektion und wirkt teilweise wie die Karikatur eines idealen England-Kapitäns.

Er trägt eine altmodische Frisur, aber auch die Regenbogenbinde. Er ist ein Weltstar, aber auch ein selbstloser, fleißiger Spieler. Abseits des Platzes macht er nie Schlagzeilen – und auf dem Platz wirkt er wie ein erstaunlich normaler Mensch.

Denn Kane war trotz seines Talents auch immer ein Spieler, der auf einem erfrischend schmalen Grat zwischen Brillanz und Bezirksliga zu wandern schien. Noch heute klingt er manchmal wie ein stolzes Schulkind, wenn er sich in seinem südostenglischen Akzent durch Fernsehinterviews plappert. Auch seine wunderbare Technik und sein gnadenloser Abschluss wirken – anders als bei manchen Spielern – nicht wie ein Geschenk Gottes, sondern wie eine menschliche Errungenschaft. Seine Fähigkeiten hat er sich offenbar hart erarbeitet, akribisch perfektioniert und professionell gepflegt.

Dabei hätte seine Karriere auch anders verlaufen können. Wie der Berliner Journalist Matthias Koch in seinem neuesten Buch schreibt, wäre Kane 2012 sogar fast in die Zweite Liga nach Deutschland gewechselt, zu einem gewissen 1.FC Union Berlin. Doch der damals 19-Jährige entschied sich für einen anderen Weg. Heute ist er Held seines Herzensklubs Tottenham Hotspur, bester Torjäger der Premier League, England-Kapitän.

Nun soll er einen Wechsel zu Manchester City oder Manchester United anpeilen – und wird damit wohl zum teuersten Engländer der Fußball-Geschichte. Das ist aber erst einmal ein Thema für später.

Für den Moment muss sich Kane lediglich auf die EM konzentrieren. Auf die Ukraine. Und auf die Chance, sich unsterblich zu machen.

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