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Warten auf die Antwort der Engländer. Jason Holder, Kapitän der West Indies, im Einsatz (hier in einem Spiel von 2019).

© Imago/Action Plus

Cricket in der Coronakrise: Die West Indies warten auf Englands Antwort

Nach langer Krise genießt die einst weltbeste Cricket-Mannschaft der West Indies Kultstatus – und bittet in der Coronakrise nun England um Solidarität.

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Joe Root ist, wie es sich für den Kapitän der englischen Cricket-Nationalmannschaft gehört, ein Gentleman. Als es vergangene Woche einen hart errungenen Sieg in der Testserie gegen die West Indies zu feiern galt, vergaß er nicht, sich dabei bei seinem Gegner zu bedanken. „Unser Respekt gilt den West Indies“, sagte er. „Sie haben das englische Cricket wohl gerettet.“

Trotz Coronavirus reisten die West Indies von den eher wenig betroffenen Antillen zum Virus-Hotspot nach England, um vor leeren Rängen die erste und bisher einzige Länderspiel-Serie des Sommers zu bestreiten. Weil diese Serie nahezu problemlos ablief, darf nun weitergespielt werden – ab dieser Woche ist die Nationalmannschaft aus Pakistan auf der Insel zu Gast.

Ohne die West Indies wäre das aber nicht möglich gewesen. Die Fernseherlöse wären damit ausgefallen, und der englische Verband hätte nach gängigen Schätzungen fast 300 Millionen Euro verloren. Für das sowieso von der Krise hart getroffene Amateurcricket wäre es ein fataler Schlag gewesen.

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Dass die West Indies die Serie verloren, war am Ende also relativ egal. Allein mit ihrer Anwesenheit gewannen sie zahlreiche neue englische Fans. Auch die vielen Charaktere der Mannschaft, wie der immer lächelnde Kapitän Jason Holder oder der fast 140 Kilogramm schwere Werfer Rakheem Cornwall haben die BBC-Zuschauer verzückt. Nach einem langen Tief genießen die West Indies – einst die unbestrittene Macht im internationalen Cricket – eine Art Kultstatus, erfreuen sich wachsender Popularität.

Zwischen den Siebziger und Neunziger Jahren waren die West Indies die stärkste Nationalmannschaft der Welt. Und das, obwohl sie im klassischen Sinne eigentlich gar keine Nationalmannschaft sind, sondern eine Auswahl der besten Spieler von den zahlreichen Staaten der Karibik, darunter Jamaika, Barbados und Trinidad und Tobago. Bis auf ein kurzes – und gescheitertes – Experiment Ende der Fünfziger gab es die West Indies eigentlich nie als eine einheitliche politische Nation. Beim Zusammenbruch jener Föderation zersplitterte sich die Region in viele kleine Inselstaaten. Nur auf dem Cricket-Feld handelten sie weiter als eine Einheit – die Cricket-Mannschaft als Relikt der vereinten Antillen, wenn man so will. Aber nicht nur das.

Cricket wurde von den Kolonialisten als Werkzeug eingesetzt

Die West Indies gelten vor allem auch als Relikt des Britischen Weltreichs, Cricket wurde von den Kolonialisten als Werkzeug eingesetzt. In seiner Jugend auf Trinidad, schrieb der marxistische Intellektuelle C.L.R. James 1963, habe er vom Cricket einen auf englischen Puritanismus basierten Verhaltenskodex erlernt, der „zum moralischen Rahmen meines Daseins“ wurde.

Erst später wurde die Sportart zu einem Akt der Rebellion und zum Ausdruck der Stärke einer unabhängigen und vielfältigen Region. In den Siebzigern erwuchs zum ersten Mal eine Generation von West-Indies-Cricketern, die auf den englischen Verhaltenskodex pfiffen. Sie spielten aggressiv und verdammt effektiv.

Mit seiner physischen Kraft war der Schlagmann Viv Richards der Star dieser Mannschaft. Die größte Waffe waren aber Bowler wie Joel Garner und Michael Holding, die ihre Gegner mit schnellen, an den Oberkörper gerichteten Würfen dominierten. Plötzlich konnte die ehemals zweitrangige Cricket-Nation West Indies mit den Großen aus England und Australien mithalten – und sie sogar demütigen.

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„Es war, als ob die Sklaven ihren Herren den Arsch peitschten“, lacht die jamaikanische Reggae-Legende Bunny Wailer in „Fire in Babylon“, einem Dokumentarfilm über jenes West-Indies-Team. Im Film werden Holding, Richards und die anderen Spieler als Vertreter eines neuen, emanzipatorischen Zeitalters charakterisiert, die kulturell im Windschatten von Wailer und seinem berühmten Weggefährten Bob Marley fuhren.

Rebellen waren sie allerdings nicht nur auf symbolischer Ebene, sondern ganz konkret. Im Kampf mit den – überwiegend weißen – Funktionären um gerechtere Spielergehälter wurden Holding, Richards und die anderen 1977 aus der Nationalelf verbannt, weil sie an dem lukrativen Splitter-Turnier World Series in Australien teilnahmen.

Die Geschichte gab den Spielern aber Recht. Unter großem öffentlichen Druck knickte der Verband später ein. Als die World Series nach zwei Jahren zusammenbrach, kamen die Spieler mit einer neuen Professionalität zurück. Für 15 Jahre waren sie nahezu unschlagbar.

Seit März verzichten die Spieler auf einen Teil ihres Gehalts

In diesem Jahrhundert wurde die Region von ihren strukturellen Problemen eingeholt. Immer wieder kam es in den letzten zwanzig Jahren zum Streit um Spielergehälter. Wegen der besseren finanziellen Perspektiven entschieden sich zudem junge Talente immer mehr für den Fußball, die Leichtathletik oder die US-Sportarten. In T20, einer Kurzform des Crickets, wurden die West Indies zwar erneut zur Weltmacht, aber im prestigereichen Test-Format fielen sie über Jahre zurück.

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Auch die aktuelle Mannschaft unter Jason Holder muss um ihr Geld kämpfen, gerade in Zeiten des Coronavirus: Seit März verzichten die Spieler auf einen Teil ihres Gehalts. Nach der Niederlage letzte Woche rief Holder zur Solidarität auf. England, so der West-Indies-Kapitän, sollte nun bitte in die Karibik kommen: „Eine solche Tour, wenn möglich vor dem Ende des Jahres, würde uns finanziell über Wasser halten“, sagte er.
Es klingt nach einem logischen Deal. Die West Indies haben das englische Cricket gerettet – nun soll England Gegenhilfe leisten. Der Höflichkeit des eingangs erwähnten Joe Root ließen die Engländer bisher aber keine Zusage folgen, kein konkretes Angebot der Solidarität. Man könnte da fast von alten Gewohnheiten reden.

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