
© Getty Images/Richard Bailey
Digitale Teilhabe für Menschen mit Behinderung: Wie inklusiv ist das Netz wirklich?
Die sozialen Medien eröffnen für Menschen mit Behinderung immer mehr Wege, gesehen zu werden und aktiv teilzuhaben. Doch auch im Netz gibt es Barrieren zu überwinden.
Stand:
„Willkommen in meinem digitalen Wohnzimmer“, schreibt Influencerin und Aktivistin Sabrina Lorenz auf Instagram (@fragments_of_living). Lorenz ist chronisch krank und teilt offen ihr Leben mit denen, die ihr folgen. „Ich habe nicht häufig die Möglichkeit, mein Zuhause verlassen zu können – na, dann lade ich die Welt da draußen […] doch einfach in mein Wohnzimmer ein.“
Lorenz ist nicht die Einzige, der es so geht. Laut dem Statistischen Bundesamt lebt fast jeder zehnte Mensch in Deutschland mit einer Behinderung. Der 3. November ist der Tag, der sie weltweit in den Fokus rückt.
Besonders in den sozialen Medien sehen viele Menschen mit Behinderung eine Chance zur Teilhabe: Um etwas zu posten oder an Diskussionen teilzunehmen, muss man nicht mobil sein.
Doch wie in der analogen Welt bringt Sichtbarkeit auch im Netz Hass mit sich. Damit stellt sich die Frage: Wie inklusiv ist die digitale Welt wirklich?
Wie sehr soziale Medien zur Aufklärung von Nichtbehinderten beitragen können, zeigt der sehbehinderte Influencer „Mr. Blindlife“ (@mr.blindlife). Auf TikTok erreicht er fast 700.000 Followerinnen und Follower, seine Videos generieren bis zu 40 Millionen Aufrufe – weltweit.
Unter dem Motto „Ich bin nicht behindert, ich werde behindert“ teilt er Alltagsszenen, etwa wenn Menschen ihm den Weg auf dem Leitstreifen blockieren. „Ich hatte keine Ahnung, dass die für Blinde sind. Ich wünschte, ich hätte das früher gelernt“, steht darunter in der Kommentarspalte. Viele, die seine Videos sehen, geben zu, sich vorher nie mit dem Leben einer sehbehinderten Person beschäftigt zu haben.
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Auch Studien bestätigen die Bedeutung digitaler Räume. Eine Trendstudie von Aktion Mensch und dem Sinus-Institut von 2019 befragte Expertinnen und Experten sowie Menschen mit Behinderung zu digitaler Teilhabe. Das Ergebnis der Studie: Digitalisierung bietet Menschen mit Behinderung weit mehr Chancen als Risiken – etwa durch neue Möglichkeiten in Arbeit und Bildung.
Digital aus dem Homeoffice arbeiten zu können, ist eine Erleichterung für Menschen mit Behinderung. Auch das Posten auf Plattformen wie Instagram und TikTok ist ein Weg für sie geworden, um Geld zu verdienen. Zwar stoßen sie auch dort auf Hindernisse wie fehlende visuelle oder akustische Hilfen, aber automatische Tools, wie eine von Instagram eingebaute Transkription von Videoinhalten zu Text, können ihnen helfen, diese zu umgehen.
Es ist eine Höchstleistung, in einer nicht-inklusiven Welt den Alltag zu bestreiten.
Influencerin und Aktivistin Sabrina Lorenz
Eine große Reichweite hat dadurch der ehemalige Paralympics-Kugelstoßer und Influencer Mathias Mester (@mathiasmester) erreicht. Der kleinwüchsige Medaillengewinner zeigt vor allem: Nicht alles so ernst nehmen! Seine Followe:innen und Follower feiern ihn für die Comedyvideos, in denen er sich meist selbst überspitzt über seine Größe lustig macht.
Die Präsenz von Menschen mit Behinderung hat zweifellos an Reichweite im Netz gewonnen. Unter Hashtags wie #Disability finden sich auf TikTok über eine Million Beiträge. Nutzerinnen und Nutzer teilen dort ihren Alltag: nahbar, authentisch und aus eigener Perspektive statt durch stigmatisierende Narrative. Sie zeigen dort etwa ihre Kämpfe gegen Barrieren, medizinische Termine – aber auch, wie herausfordernd Sport oder Dating sein kann.
„Ich finde es super, über mich zu lachen“, sagt Mester der „NWZonline“. „So finde ich, geht man am besten durchs Leben. Mit Spaß am Leben.“ Nach seinem Karriereende als Sportler ist er längst nicht von der Bildfläche verschwunden – im Gegenteil. Mester ist Podcaster, Autor und vor allem Inklusionsbotschafter, der in den sozialen Medien Menschen zum Lachen und Nachdenken bringt.
Dass Sichtbarkeit jedoch nicht mit Akzeptanz einhergeht, erfährt Influencerin und Speakerin Gina Ruhl (@gina.ruhl) durch Kommentare unter ihren Posts. 1,2 Millionen Menschen folgen der „einarmigen Prinzessin“, wie sie sich selbst nennt, auf TikTok. Dort werfen ihr Userinnen und User unter anderem vor, ihre Behinderung zu präsentieren.
„Die [Behinderungen] werden automatisch zur Schau gestellt, weil wir existieren. Nur weil wir also eine Behinderung haben, dürfen wir kein Social Media machen?“, kontert sie in einem Video. Sie lässt sich nicht von solchen Reaktionen einschüchtern. „Die Kommentare, die wir täglich lesen müssen, zeigen nicht, wer wir sind. Sie zeigen, wie unzufrieden manche Menschen mit sich selbst sind.“
Wie präsent Hass digital ist, zeigt die 2024 veröffentlichte Forsa-Studie der Medienanstalt NRW/LFM. Danach haben knapp ein Viertel bereits Hatespeech oder Hasskommentare gegen Menschen mit Behinderung im Internet wahrgenommen. 2022 waren es 20 Prozent. In der Altersklasse der 14- bis 24-Jährigen hatten in der aktuellen Umfrage sogar 54 Prozent Hass gegen Menschen mit Behinderung wahrgenommen, das war der höchste Prozentsatz.
Wie viele Menschen sehen wirklich inklusive Posts?
Doch nicht nur Hass im Netz steht Inklusion im Weg. Obwohl es viele Beiträge von Menschen mit Behinderung gibt oder viele das Thema aufgreifen, sehen diese primär Userinnen und User, die sich ohnehin mit dem Thema befassen und den jeweiligen Personen folgen. Laut dem Landesmedienzentrum Baden-Württemberg kann so das Gefühl einer Community und von Sichtbarkeit entstehen – zumindest für Menschen, die ohnehin gleiche Interessen teilen. Andere Meinungen sehe man hingegen seltener.
Zwar ist das Konzept dieser Filterblasen in der Forschung umstritten, wie Christian Hoffmann, Professor für Kommunikationsmanagement an der Universität Leipzig, dem Tagesspiegel sagte, vor allem, wenn es um die Polarisierung der Nutzerinnen und Nutzer geht. Trotzdem bleibt die Frage, wie viele Menschen inklusive Posts tatsächlich erreichen, die sich nicht ohnehin damit beschäftigen. Dabei bräuchte Inklusion gerade das: mehr Bewusstsein in einer größeren Bevölkerungsgruppe.
Kurzvideo-Plattformen wie Instagram und TikTok können diese Muster verstärken. Laut KG Media Factory, einem deutschen Unternehmen für Video-Content-Marketing, müssen die Inhalte kurz, emotional und leicht konsumierbar sein, um erfolgreich zu werden. So seien die Inhalte perfekt an das heutige Medienverhalten angepasst, wo sie unterwegs und zwischendurch konsumiert würden.
Die Schwierigkeit, mit diesen Erwartungen umzugehen, kennt auch Sabrina Lorenz. „Social Media liebt Geschichten mit Spannung, Höhepunkten, Wendungen. Viele Geschichten sind nicht geprägt von spannenden Wendungen, vielmehr von täglichen kleinen, andauernden und stillen Kämpfen“, schreibt sie auf Instagram.
Das sorge für sehr viel Leistungsdruck, dem nicht jeder nachkommen könne, „auch in den Communitys, die genau hier eigentlich Verständnis haben sollten“. Dabei sei es eine Höchstleistung, in einer nicht-inklusiven Welt den Alltag zu bestreiten“, schreibt Lorenz.
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