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Volle Ränge im Wembley-Stadion. Bei der Rugby-WM in England normal, in Deutschland unvorstellbar.

© AFP

Rugby-WM in England: Gentlemen und Hooligans

In England fasziniert die Rugby-WM – Deutschland schaut weg. Warum? Unterwegs auf Nachwuchsmission.

Längst hat die Klingel geläutet, der Unterricht ist vorbei, aber die Schüler des Lessing-Gymnasiums in Wedding wollen noch nicht Pause machen. Sie werfen einen ovalförmigen Ball durch die Luft, versuchen ihn zu fangen oder ihre Gegenspieler daran zu hindern. Sie spielen Rugby, zum ersten Mal in ihrem Leben. Schweiß rinnt den Jungen und Mädchen über das Gesicht, ihr Puls schlägt schnell, aber sie lachen. Für Robert Mohr ist das ein gutes Zeichen. Die zwölf bis 13 Jahre alten Kinder haben Spaß. Er hat alles richtig gemacht.

Im Auftrag der deutschen Rugby-Akademie besucht der 37-Jährige zusammen mit den Franzosen Julien Pierre und Benjamin Ferrou an diesem Tag zwei Berliner Schulen. Am Morgen waren die ehemaligen Weltklassespieler im Märkischen Viertel. Nun, zur Mittagszeit, schauen sie in Wedding vorbei. Das Centre Français de Berlin hat Pierre und Ferrou eingeladen, sie begleiten ihren ehemaligen Mitspieler Mohr bei dessen Mission. Er soll Interesse wecken, Kinder für das Spiel begeistern und Talente entdecken.

Der Zeitpunkt ist nicht zufällig. Am Freitag hat in London die achte Weltmeisterschaft im Rugby-Union begonnen, der Version mit 15 Spielern pro Mannschaft. Das Turnier ist nach der Fußball-WM und den Olympischen Spielen das drittgrößte Sportereignis der Welt. Die knapp zweieinhalb Millionen Tickets sind beinahe alle verkauft, auf dem Schwarzmarkt kosten Karten bis zu 3500 Euro. Die Spiele werden in 200 Länder übertragen, in Deutschland zeigt der Spartensender Eurosport 26 der 48 Partien. England erwartet rund eine halbe Million Besucher, die meisten davon aus Südafrika, Australien, Neuseeland und Frankreich – alles Länder, in denen Rugby enorm populär ist.

Rugby ist in Deutschland selbst unter den Randsportarten eine Randsportart

Aus Deutschland werden kaum Fans anreisen. Rugby ist hierzulande selbst unter den Randsportarten eine Randsportart. Das Spiel, für das sich Millionen Menschen auf allen Kontinenten begeistern, wird in Deutschland von verhältnismäßig wenigen Aktiven ausgeübt. Der deutsche Rugby-Verband (DRV) zählt rund 14 000 Mitglieder, es gibt nur etwas mehr als hundert Vereine. Zum Vergleich: Der Deutsche Fußball-Bund kommt derzeit auf circa sieben Millionen aktive Mitglieder.

„Ich finde, Rugby hat eine bessere Rolle im deutschen Sport verdient“, sagt Mohr. Seine braunen Augen blicken in diesem Moment entschlossen drein, er schaut ernster. Unter dem grünen T-Shirt spannen die Muskeln. Mohr ist auch nach seiner aktiven Karriere noch eine imposante Gestalt, 1,95 Meter pure Muskelmasse. So einem widerspricht man nicht.

Er und die beiden Franzosen sitzen inzwischen in einem französischen Restaurant in der Müllerstraße. Der Kellner bringt Weißbrot, Wasser und Rotwein.

Mohr wird jetzt grundsätzlich. Er spricht über Werte, die Rugby aus seiner Sicht vermittelt. Fairness, Respekt, Loyalität, Selbstbeherrschung. Als Spiel der weißen gehobenen Mittelschicht hat Rugby seinen Ursprung im englischen Hochschulmilieu des frühen 19. Jahrhunderts. Der Pädagoge Thomas Arnold wollte seinen Schülern mithilfe des Sports eine „muskulöse Ritterlichkeit“ anerziehen. Noch heute heißt es: „Football is a gentleman’s game played by hooligans, and rugby is a hooligans’ game played by gentlemen.” In Rugby-Stadien ist die Stimmung viel weniger feindselig als bei anderen Sportarten, Heim- und Gästefans sitzen auch nicht getrennt voneinander. Mohr hat eine einfache Erklärung: „Wenn keiner bescheißt, können auch keine Aggressionen aufkommen.“ Niemand versuche einen Vorteil durch Betrug oder Simulieren zu erlangen, das sei verpönt.

Eine Tomatensuppe wird gereicht, aber Mohr rührt sie zunächst nicht an, er ist jetzt in seinem Element. „Der Sport ist ein Kampfspiel mit viel Körperkontakt. Jeder muss an sein Limit gehen, gleichzeitig aber seine Aggressionen kanalisieren und innerhalb der Regeln bleiben“, sagt er und erzählt von amerikanischen Soldaten, die während der Ausbildung Rugby spielen mussten, um zu lernen, ihre Emotionen unter Kampfbedingungen im Griff zu behalten. Ihn habe immer das Zusammenspiel in der Gruppe fasziniert. „In anderen Sportarten kann man als Individuum existieren, beim Rugby ist das unmöglich. Ohne die anderen ist man nichts. Kein Interview mit einem Rugby-Spieler wird jemals das Wort ich beinhalten“, sagt Mohr. Das Spiel sei zu komplex und die 15 Spieler zu sehr voneinander abhängig beim Scrum, dem Gedränge, als dass ein Solist Erfolg haben könne. „Wenn sich nur einer etwas weniger anstrengt, lässt er die gesamte Gruppe im Stich.“

Beim Rugby zählt die Mannschaft, nicht das Ich

Mohr hat zu diesem Thema einige Vorträge gehalten. Große Unternehmen laden ihn ein, damit er zu deren Führungskräften spricht. Es geht dann um Mitarbeitermotivation, Loyalität und Vertrauen.

Die Wirtschaft hat den Sport längst für sich entdeckt, nicht nur als Motivationsquelle. Die Einnahmen aus dem Sponsoring haben sich beim Rugby in den Ländern, in denen der Sport populär ist, rasant vervielfacht. Vor allem in Frankreich lässt sich mittlerweile hervorragend davon leben. Ein durchschnittlicher Spieler verdient dort zwischen 11 000 und 13 000 Euro pro Monat. Auch in Italien, Großbritannien, Australien, Südafrika und Neuseeland gibt es Profiligen.

In Deutschland nicht. Die Strukturen sind amateurhaft. Seit der ersten WM 1987 hat sich die Nationalmannschaft nicht mehr für ein Endturnier qualifizieren können. Zuletzt scheiterte sie aber nur knapp an Russland. Im 7er-Rugby, einer abgewandelten Form, die 2016 erstmalig olympisch ist, hat Deutschland aber noch Chancen, sich für Rio zu qualifizieren.

Die positiven Resultate haben nicht zuletzt mit dem höheren Maß an Professionalisierung zu tun. In Heidelberg lässt der Unternehmer Hans-Peter Wild gerade ein Trainingszentrum bauen, dort wird die Nationalmannschaft der 15er am 3. Oktober ihr nächstes Spiel gegen La Rochelle austragen, Mohrs ehemaligem Klub.

Zu diesem Zeitpunkt ist bei der WM noch nicht einmal Halbzeit, das Turnier zieht sich über sechs Wochen. Am Abend des 31. Oktober wird der neue Weltmeister gekürt. „Es ist völlig unmöglich, mehr als ein Spiel pro Woche zu bestreiten, weil der Körper so lange zur Regeneration benötigt“, erklärt Mohr. Wer am Sonnabend spielt, könne vielleicht am Dienstag wieder etwas trainieren. In den ersten zwei Tagen nach dem Spiel würden alle Körperpartien schmerzen. Blutergüsse, Stauchungen, Quetschungen. Die beiden Franzosen nicken. Alle drei sitzen inzwischen vor einem riesigen Berg Pasta mit Schafskäse. Der Kellner schenkt Wein nach.

Keiner von ihnen hatte je schwere Verletzungen, die sind trotz aller Härte beim Rugby die Ausnahme. Ihren Ohren ist der Sport aber anzusehen. Pierres und Mohrs haben kaum noch Konturen, ihre Ohrmuscheln sind nicht mehr zu erkennen. Die vielen Blutergüsse haben das Gewebe anschwellen und hart werden lassen.

Als Mohr neulich in Heidelberg vor einer Disco stand, verweigerte ihm der Türsteher mit einem Hinweis auf seine Ohren den Zutritt. Ringer seien nicht erwünscht, sagte der Einlasser. „Und Rugby-Spieler?“, fragte Mohr. Kein Problem, er durfte rein. Mohr muss lachen, wenn er daran denkt. Das Image von Rugby scheint in Deutschland schon mal zu stimmen.

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