
© dpa/Julian Stratenschulte
Kolumne „inklusiv“: Wie Menschen mit Beeinträchtigung wählen
Erst seit 2021 dürfen Menschen mit Beeinträchtigung wählen gehen. Wie barrierefrei die Wahllokale sind, welche Herausforderungen sich ergeben und wie die Wahl in anderen Ländern abläuft.
Stand:
Nach Informationen des Statistischen Bundesamts waren in Deutschland etwa 65 Millionen Menschen für die Europawahl wahlberechtigt. Zum ersten Mal durften Menschen mit Beeinträchtigung 2021 wählen gehen. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Menschen mit Beeinträchtigung nicht von den Wahlen ausgeschlossen werden dürfen.
Bei der letzten EU-Wahl 2019 wurden laut dem Bericht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses etwa 800.000 Menschen mit psychischer Erkrankung vom Wahlrecht ausgeschlossen. Menschen mit Beeinträchtigung, die nicht selbst Entscheidungen treffen können und einen rechtlichen Betreuer haben, durften nicht wählen. Der Bundestag hat reagiert und die Regel geändert: Jetzt dürfen auch Menschen wählen, die einen rechtlichen Betreuer haben.
Jedes achte Wahllokal in Berlin ist nicht barrierefrei
Für einige Menschen mit Beeinträchtigung ist die Wahl trotzdem eine Hürde, da viele Wahllokale nicht barrierefrei sind. So ist jedes achte Wachlokal in Berlin nicht barrierefrei. Das zeigen Zahlen des Landeswahlamts in Berlin. In Mecklenburg-Vorpommern sind fast 800 Wahllokale nicht barrierefrei. Das macht 35 Prozent aus.
Die Wahlunterlagen sind schwer zu verstehen
Ich habe mich auf den Weg gemacht, um herauszufinden, wie Menschen mit Beeinträchtigungen an Informationen zur Europawahl kommen und als wie inklusiv sie die Wahlen empfinden. Ich habe eine Wohngruppe in Hamburg besucht. Dort habe mit den Bewohnern über die Wahl gesprochen. Einige haben gesagt, dass sie die Briefwahlunterlagen nicht gut verstehen.
Manche wussten genau, was sie wählen wollen und bei manchen musste man die Fragen noch extra erklären. Ich fand es nicht sehr barrierefrei. Die Wahlunterlagen sollte es in einfacher Sprache geben.
Alexander, rechtlicher Betreuer
Die Bewohnerin Wiebke meinte, dass sie mehr Aufklärung braucht über die Parteien und darüber „welche Parteien gut und welche nicht so gut sind“. Die Bewohnerin Anna sagte, dass ihr die Betreuer bei der Briefwahl geholfen haben. Ins Wahllokal möchte sie nicht gehen. Sie betont: „Dort finde ich es zu voll und zu hektisch.“
Eine Herausforderung für die Betreuer
Für die rechtlichen Betreuer ist die Unterstützung eine Herausforderung, erzählt mir der Betreuer Alexander. „Ich finde es generell eine schwierige Aufgabe, wie weit wir als Betreuer beim Wahlprozess unterstützen können, ohne zu beeinflussen“. Sobald ein Betreuer bei der Wahl dabei ist, sei die Wahl zudem nicht mehr geheim.
Die Wahlunterlagen sind für Menschen mit Lernbeeinträchtigungen nicht gut zu verstehen, betont Alexander: „Das fand ich für Menschen mit Beeinträchtigungen nicht so leicht zu verstehen. Manche wussten genau, was sie wählen wollen und bei manchen musste man die Fragen noch extra erklären. Ich fand es nicht sehr barrierefrei. Die Wahlunterlagen sollte es in einfacher Sprache geben.“
Ein Beispiel: Wählen mit Sehbeeinträchtigung
Die Menschen, die eine Sehbeeinträchtigung haben oder blind sind, konnten sich von einer Vertrauensperson Unterstützung holen. Die eigene Stimme können sie mithilfe von Stimmzettelschablonen abgeben. Die Stimmzettelschablonen werden von den Landesvereinen des Deutschen Blinden und Sehbehindertenverbandes e.V. (DBSV) kostenlos ausgegeben.
Kurse und Infoveranstaltungen mit Politikern
Damit sich Menschen mit Beeinträchtigungen gut informiert fühlen und über die Wahlen und die Parteien Bescheid wissen, haben die Wohngruppen und Werkstätten Infoveranstaltungen zu den Wahlen organisiert. Es wurden auch Politiker in die Einrichtungen eingeladen. Dort haben die Politiker berichtet, was sie für Menschen mit Beeinträchtigungen machen und es wurden Fragen in Bezog auf Inklusion, Teilhabe und Barrierefreiheit gestellt.
Bei der Stiftung Alsterdorf wurden Kurse zur EU-Wahl angeboten. Dort wurde besprochen, wie gewählt wird und wie die Briefwahl funktioniert. Es wurden fünf Politiker von der Bezirksversammlung Hamburg Nord eingeladen.
Die Teilnehmer haben Fragen gestellt, wie zum Beispiel das Wahlprogramm zu uns kommt, welchen bezahlbaren Wohnraum es geben wird und wie die Politiker den Zugang zu den Bezirksämtern sicherstellen. Die Veranstaltung wurde barrierefrei gestaltet. Es gab Gebärdendolmetscher und sie wurde verschriftlicht. Außerdem wurde eine Moderatorin eingeladen, die die Veranstaltung in leichte Sprache übersetzt hat.
Mit der Politik-AG haben sie zusammen einen Infostand aufgebaut. Hier gab es Infomaterial in leichter Sprache zur Europawahl und es wurden Hefte und Postkarten von der Politik-AG ausgestellt.
Wählen in anderen Ländern
Laut Eurostat gibt es in der EU etwa 101 Millionen Menschen mit Behinderungen. In den Ländern Bulgarien, Dänemark, Estland, Ungarn, Litauen, Portugal, und Slowenien dürfen Menschen mit Beeinträchtigungen nicht wählen, da sie eine Begleitperson benötigen. Einige dieser Menschen dürfen nicht selbst Entscheidungen treffen, da sie einen rechtlichen Betreuer haben. Beim Wahllokal ist allerdings nur eine Person zugelassen. In diesen Ländern gibt es keine Alternative, als in das Wahllokal zu gehen. Es wird dort nicht angeboten, per Brief zu wählen.
Weil Menschen mit Beeinträchtigungen nicht wählen dürfen, verstoßen die Länder gegen die UN-Behindertenkonvention. Laut Artikel 29 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) sollen die Wahlverfahren und Wahlmaterialien für alle zugänglich und leicht zu verstehen sein.
Es gibt allerdings keine Pflicht zur Schaffung von barrierefreien Wahllokalen. Die 27 EU-Mitgliedstaaten haben aber die Vereinbarung unterschrieben. Ich finde, dass sie sich alle an den Vertrag halten sollten, damit auch Menschen mit Beeinträchtigungen mitbestimmen und ihre Meinung auf Papier bringen können.
- Nikolai Prodöhl ist Journalist. Er hat eine Lern- und Sprachbehinderung und schreibt seit September 2023 eine Kolumne für den Sportteil Tagesspiegel. Diesmal hat er sich einem politischen Thema gewidmet.
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