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Léon Schäfer (l.), 24, und Heinrich Popow, 38, mussten sich beide einen Unterschenkel amputieren lassen und wurden daraufhin Leistungssportler. Popow hat seine Karriere mittlerweile beendet, Schäfer startet bei den Paralympics in Tokio.

© imago images/Beautiful Sports

Léon Schäfer und Heinrich Popow über die Paralympics: „Sport mit Behinderung hat erstmal nichts mit Medaillen zutun“

Die beiden Para-Leichtathleten und Weltrekordhalter über ihre Anfänge, Nachwuchsförderung und Techno-Doping.

Herr Popow, Herr Schäfer, Sie gehören unterschiedlichen Generationen von Para-Sportler*innen mit Prothese an und treten in der Öffentlichkeit oft als Duo auf. Können Sie sich noch an Ihre erste Begegnung erinnern?

LÉON SCHÄFER: Ich habe nicht mehr die eine Begegnung im Kopf, aber es ist in der Zeit gewesen, als ich mit meiner Sportprothese die ersten Male in Leverkusen in die Halle kam. Ich stand schon ein paar Mal vorher drauf, aber wusste noch gar nicht, wo links und rechts ist. Heinrich hat mich dann an die Hand genommen und mir so ein bisschen gezeigt, worauf ich zu achten habe.

HEINRICH POPOW: Das hat er sehr nett verpackt. Ich kann mich daran erinnern, wie er in der Halle auftauchte, und ich dachte: „Puh, da kommt einer, der sieht vom Körperbau so aus, als würde er dem Heinrich Popow und seinen Rekorden in den Arsch treten.“ Und dann hatte er auch so eine positive Ausstrahlung und war so unbefangen. Er lief durch die Halle und hat irgendeinen Mist mit der Prothese gemacht. Ich habe ihn darauf angesprochen, was er da denn mache – und so sind wir dann ins Gespräch gekommen. Seitdem ist daraus eine enge Freundschaft entstanden mit viel Respekt füreinander. Ich kann kaum glauben, was er heute mit der Prothese macht – und er sieht mich als sein Unterstützer.

SCHÄFER: Ich sage immer „Mentor“.

POPOW: Ich sehe in ihm ein bisschen das, was ich nie konnte. Als ich Weltrekorde gelaufen bin, dachte ich: „Das sind die Grenzen der Weltrekorde, ich bin der Held, das schafft keiner“ – und dann kommt so ein Vogel und macht’s einfach besser (lacht). Ist schön zu sehen.

Sie haben beide aufgrund einer Erkrankung schon in jungen Jahren eine Beinamputation vornehmen lassen müssen. Wie lange hat es gebraucht, um danach mit dem Laufen wirklich loszulegen?

SCHÄFER: Ich kann mich dran erinnern, dass meine Schule damals einen Spendenlauf für mich organisiert hat, und so konnte ich mir meine erste Sportprothese finanzieren. Wenn du deine ersten Schritte machst, legst du dich ein paar Mal hin, aber du stehst einfach auf und machst weiter und darum geht es: lernen, Sachen anzunehmen, zu verinnerlichen, wieder aufzustehen und weiterzumachen. Ich würde sagen, dass es bei mir nach zwei bis drei Wochen einigermaßen nach Laufen aussah. Es ist definitiv ein Vorteil, wenn man noch jung ist. Dann macht dir das Hinfallen nichts aus.

POPOW: Bei mir hat es länger gedauert, weil ich allein war. Ich habe mein Bein 1992 verloren, da gab es keinen, den ich fragen konnte, es gab auch noch keine wirklichen Sportprothesen. Ich habe mir damals aus Alltagsprodukten etwas zusammengebastelt, weil ich mich einfach nur bewegen wollte. Léon hat den Aspekt des Kindes angesprochen: Als Kind verstehst du nicht, ob du Kopfschmerzen oder Krebs hast. Du guckst raus, siehst die Jungs auf dem Bolzplatz, siehst deine Freunde Sport machen und willst genau das gleiche. Ich habe mindestens zwei bis drei Jahre dafür gebraucht.

Wie verlief Ihr Weg in den Leistungssport?

POPOW: Ich war noch nie der klassische Leistungssportler. Ich habe den paralympischen Sport gemacht, weil ich die Schnauze voll hatte von den Leuten, die gesagt haben, dass ich nicht schnell laufen oder weit springen kann. Das war meine Motivation. Dass dabei Goldmedaillen und Weltrekorde rausgekommen sind, war niemals geplant. Meine ganze Leistung kam über die Leidenschaft und über die Wissbegierde. Ich war aber nicht der, der jeden Tag trainieren wollte, da bin ich zu faul für gewesen. Léon ist da eher der Leistungssportler.

SCHÄFER: Ich habe 2011 mit dem Sport angefangen und im Junioren-Bereich bei Welt- und Europameisterschaften einige Medaillen geholt. Dann war ich 2015 das erste Mal bei den Erwachsenen dabei und habe dort schnell gemerkt, dass dieses bisschen Training mal hier und mal da nicht mehr reicht. Ich musste wirklich viel Arbeit, Energie und vor allem auch Zeit reinstecken. Mein Ziel war da klar, in Richtung Leistungssport zu gehen.

POPOW: Ich hatte diesen Junioren-Bereich gar nicht. Ich bin einfach irgendwo aufgetaucht und habe Behindertensport gemacht. Ich habe versucht, so schnell wie möglich von A nach B zu kommen, so war das damals. Das hat sich bis heute natürlich komplett gewandelt. Wir sehen das in Leverkusen, da gibt es heute sechsjährige Kinder mit Amputationen, die mit der Kinderleichtathletik anfangen. Das gab es früher nicht.

Heute engagieren Sie sich beide in der Nachwuchsförderung. Wie muss man sich das vorstellen?

POPOW: Mit unserem Hintergrund als Leistungssportler veranstalten wir in Zusammenarbeit mit dem Prothesenhersteller Ottobock die sogenannten Talent-Tage. Léons Arbeit bezieht sich auf Leverkusen, ich mache das weltweit über die Running Clinics und versuche, Léon da so oft wie möglich einzubinden. Wir nutzen die Sozialen Medien, aber auch die Strukturen über den deutschen Markt. Wir verbreiten das Angebot in Sanitätshäusern und sagen: „Hey, habt ihr junge Leute, schickt die zu den Talent-Tagen“ – und dann machen wir mit denen Sport. Seitens der Krankenkassen und der Verbände könnte das noch viel, viel besser sein, da kommt es vielmehr auf die Eigeninitiative der Eltern an. Außerdem haben die Medien als Multiplikatoren Einfluss darauf – also pressure on you (lacht).

Für Ottobock sind Sie als sogenannte Botschafter tätig. Was ist Ihre Botschaft und an wen geht sie?

SCHÄFER: Meine Botschaft geht in erster Linie an die jüngere Generation, die in etwa dasselbe Schicksal wie wir, wie ich tragen: die lernen müssen, mit einer Amputation umzugehen. Meine Botschaft ist, das Beste aus den Dingen zu machen und immer positiv zu bleiben, sich von der Behinderung, von der Amputation nicht unterkriegen zu lassen. Eine Behinderung fängt im Kopf an – und wenn du die Behinderung für dich akzeptierst, lernst du einfach deutlich schneller und besser, damit umzugehen.

POPOW: Da gibt es eigentlich fast gar nichts hinzuzufügen. Ich habe meine Botschafter-Aufgaben an Léon abgegeben. Ich bin froh, dass ich jetzt Mitarbeiter bei Ottobock bin und einen verlängerten Arm in die internen Prozesse bekommen habe. Léon und ich stehen beide dafür, dass Behinderung kein Ende ist, sondern ein Anfang sein kann. Sport mit Behinderung oder Amputation erhöht die Lebensqualität und hat erstmal gar nichts mit paralympischen Medaillen zu tun. Wir wollen einfach eine Vorbildfunktion übernehmen und zeigen, dass wir normal sind. Wir genießen das Leben und versuchen, das nach außen zu tragen.

In der öffentlichen Wahrnehmung gelten Sie vor allem als die Medaillengewinner.

POPOW: Der Weg nach der Amputation oder nach der Behinderung zurück in die Gesellschaft – der wird ja ausgeblendet. Beim Para-Sport ist das alles schon vorbei, da sind die Menschen rehabilitiert. Aber die ersten Schritte – der Weg zur Toilette … da kommst du nicht einfach hin, und wenn du dahinkommst, dann kommst du zurück und musst dein T-Shirt auswechseln, weil es nassgeschwitzt ist. Das ist viel anstrengender als ein 100-Meter-Finale bei den Paralympics.

Barfuß oder Schlappschuh. Heinrich Popow dokumentiert den jüngsten Weltrekord von Léon Schäfer.
Barfuß oder Schlappschuh. Heinrich Popow dokumentiert den jüngsten Weltrekord von Léon Schäfer.

© imago images/Mika Volkmann

Herr Schäfer, Sie haben Herrn Popow vor zwei Jahren seinen Weltrekord im Weitsprung weggeschnappt und haben vor einem Jahr ihren eigenen Rekord nochmal verbessert. Wie sind Sie danach einander begegnet?

SCHÄFER: Heinrich war an dem Tag dabei, er hat mir noch Anweisungen für den letzten Versuch gegeben. Ich bin dann 7,24 Meter gesprungen. Als erstes bin ich zum Coach, hab den abgeklatscht, es war sehr emotional. Dann kam ein anderer Sportskollege – und als dritte Person kam Heinrich. Wir haben uns in den Arm genommen und er meinte: „Junge, siehste? Geht doch.“ Es war ein krasser Moment. Gerade weil wir die gleiche Amputation haben. Seine Tipps dann so umsetzen zu können, das war traumhaft, wirklich.

POPOW: Er lernt von mir, aber ich lerne extrem viel von ihm und denke mir: „Was hast du dir gedacht in deiner Karriere, wie hast du das gemacht?“ Ich bin dafür bekannt gewesen, dass ich technisch komplett schlecht war, aber super viel Kraft hatte. Was Léon technisch sauber macht, habe ich nur mit Kraft geschafft.

Wie nehmen Sie solche Tipps von Herrn Popow mit in den Wettkampf?

SCHÄFER: Ich gehe vor einem Sprung nochmal Verbesserungen durch und versuche, sie zu visualisieren. Ich stelle mir vor, wie der Sprung im besten Fall aussehen soll, wie ich den Anlauf gestalte und dann die Position in der Luft. Ich versuche, auf die kleinen Feinheiten zu achten. Aber im besten Fall denkt man nicht zu viel nach, weil man dann verkrampft.

POPOW: Dieses Visualisieren des Wettkampfs ist extrem wichtig. Ich kann zu meinem 100-Meter-Lauf in London (bei den Paralympics 2012, Anm.d.R.) sagen: Das Rennen, das andere gesehen haben, entspricht nicht dem, was ich gefühlt habe. Für mich war das einfach ein Rennen, das ich visualisiert hatte und runtergelaufen bin. Ich hatte das Gefühl, ich habe das ganz entspannt gewonnen, aber wenn man sich das Video ansieht, dann merkt man, dass ich nach 90 Metern noch hinten gelegen habe. Ich bin froh, dass ich nicht diese reale Situation wahrgenommen habe, denn dann wäre ich verkrampft.

Haben Sie Rituale vor einem Wettkampf?

POPOW: Ich bin da ein bisschen Monk-veranlagt. Meine Spikes mussten neu rein, die Schuhe mussten sauber sein – und ich musste immer frische Nägel haben. Vor dem Start habe ich mich auf meiner Bahn nach etwa 30 Metern hingekniet und versucht, mir den Fokus zu holen. Das war mein Ritual.

SCHÄFER: Ich verinnerliche noch einmal die technischen Sachen und versuche, entspannt in den Wettkampf reinzugehen. Ich würde aber nicht sagen, dass ich ein Ritual habe.

POPOW: Ich kenne eins von dir! Du weißt einfach, an welchem Tag du einen Weltrekord springen kannst – und siehst an solchen Tagen immer sehr, sehr gut aus! Léon sorgt dafür, dass der Haarschnitt passt, dass keine Augenringe da sind, er sieht immer aus wie aus dem Ei gepellt. Im Vergleich dazu habe ich an meinen Wettkampftagen immer die komischsten Gesichter gezogen. Aber Léon sieht so aus, als wäre er auf einem Model-Shooting. Ne?

SCHÄFER: Ja, doch, das kann ich schon unterstützen (lacht).

Woran spüren Sie, dass Sie einen guten Tag haben werden?

POPOW: Das frag ich mich auch, das kann dir keiner beantworten.

SCHÄFER: Ich verlasse mich darauf, dass mein Coach mich auf den Wettkampftag hin vernünftig vorbereitet, dass ich fit bin. Das ist ein perfektes Zusammenspiel aus Coach und Athlet. Mein Coach ist sehr erfahren, er kann mich ganz gut handlen, und ich ihn. Wir haben unsere Wave gefunden und dementsprechend vertraue ich ihm da sehr.

Herr Popow, Herr Schäfer, sind die Leistungen von Sportler*innen mit Prothese mit denen der nicht-behinderten Athlet*innen vergleichbar?

POPOW: Bei der Berichterstattung zu diesem Thema wird oft gesagt, dass die Leistungen der Para-Athleten auf dem neuesten Stand der Technik basieren. Aber das ist der größte Quatsch. Johannes Floors läuft 10,5 Sekunden auf 100 Metern mit Federn, die Anfang der Neunziger entwickelt wurden. Der Para-Sportler bekommt so das Gefühl, auf seine Prothese reduziert zu werden.

Stichwort „Techno-Doping“.

POPOW: Nehmen wir mal Léon – und machen seine rechte Seite, seine amputierte Seite, schneller als seine linke: Dann wäre seine limitierte Seite plötzlich die gesunde. Es bringt aber nichts, die Prothese „schneller zu machen“. Wenn die Prothesen-Seite schneller wäre, dann würde er sich im Kreis drehen. Wenn wir über andere Disziplinen reden wie den Weitsprung, dann müssen wir fair bleiben und sagen, dass das nicht vergleichbar ist gegenüber einem Nicht-Behinderten. Aber dass das immer sofort auf einer Ebene des Vorteils und des Nachteils gebracht wird, tut der öffentlichen Diskussion nicht gut. Unsere Leistung ist genauso hart erarbeitet, wenn nicht sogar härter, den Alltag miteingeschlossen. Deswegen stehe ich nicht zu diesem ganzen Techno-Doping-Gerede und dem Vergleich mit den Olympioniken.

SCHÄFER: Das alles bekomme ich selbst mit und auch ab. Wenn man so weit springt, kommen Kommentare wie: „Das ist doch nur wegen der Feder.“ Ja, die Feder unterstützt mich – aber ich muss doch das Ganze beherrschen, um die Leistung hervorzurufen und dazu gehört viel Training!

POPOW: Immer, wenn ich sowas höre, dann würde ich denjenigen gern auf solche Federn draufstellen und schauen, ob er fünf Meter darauf gehen kann. Aber wir werden ganz oft mit der Theorie konfrontiert und müssen uns dann fast dafür schämen, dass wir unsere Leistungen bringen, wie wir sie bringen.

Sie sind beide bei den Paralympics vor Ort – mit unterschiedlichen Funktionen und Aufgaben. Welche Erwartungen haben Sie?

SCHÄFER: Ich denke, die Spiele werden ohne Fans ganz anderes als vor fünf Jahren in Rio, das waren ja meine ersten Spiele. Die Paralympics sind einfach ein Event, bei dem sich Leute connecten. Im Prinzip sind wir alle eine Familie. Ich verstehe mich auch mit dem größten Teil meiner Konkurrenten gut und wir quatschen und machen Witze vor den Wettkämpfen. Ich glaube nicht, dass es das so unbedingt im olympischen Sport gibt – ohne das negativ zu bewerten. Die Verbindung bei uns ist einfach die Behinderung und jeder kann sich in etwa in den anderen hineinfühlen. Von daher gibt es ein großes Miteinander, und das geht jetzt in Tokio ein bisschen verloren. Ich denke, jetzt ist es nochmal umso wichtiger, dass wir als Athleten mit allen Beteiligten zusammen trotzdem widerspiegeln, was diese paralympische Bewegung ausmacht.

POPOW: Für mich sind es die ersten Spiele nach meinem Karriereende, ich war vier Mal als Athlet dabei. Ich habe ein bisschen Angst, dass eine gewisse Leichtigkeit verloren geht. Nichtsdestotrotz sind wir in unserem Umgang mit Schicksalsschlägen erprobt, deswegen werden wir das Beste daraus machen. Wir haben das Privileg, immer noch Sport machen zu dürfen – da sollten wir mit ein bisschen Demut auf gewisse andere Situationen oder Menschen schauen, die nicht diese Möglichkeiten haben und die die Pandemie vielleicht anders getroffen hat.

Dieses Gespräch ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier.

Delia Kornelsen

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