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Die Nationalmannschaft der Schweiz steht vor der Heim-EM enorm unter Druck.

© IMAGO/Rolf Simeon

Lügen, Verletzungen und zahlreiche Streitthemen: EM-Gastgeber Schweiz befindet sich im Krisenmodus

Eigentlich möchten die Schweizer Fußballerinnen ein Sommermärchen erleben und den Frauenfußball voranbringen. Die anfängliche Euphorie hat sich aber mehr und mehr in ein Gefühl der Unsicherheit verwandelt.

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Ein riesiger Shitstorm, schwere Verletzungen, Streitthemen mit der Trainerin und schlechte Stimmung im Team. Die Liste an Problemen im Schweizer Frauenfußball ist lang und das ausgerechnet vor der Europameisterschaft im eigenen Land, die am Mittwoch mit dem Eröffnungsspiel zwischen dem Gastgeber und Norwegen in Basel (21 Uhr, ARD) beginnt.

Die Organisatoren möchten mit dem Turnier Rekorde aufstellen, ein „Vermächtnis“ für den Schweizer Frauenfußball hinterlassen und nachhaltigen Erfolg herbeiführen, „damit die Auswirkungen der Veranstaltung noch weit über den Schlusspfiff hinaus spürbar sind“.

Doch die Endrunde, die das ganze Land elektrisieren und so viel Publikum wie noch nie bei einer Fußball-EM der Frauen in die Stadien locken soll, droht – zumindest für das Heimteam – eine Enttäuschung zu werden. Dabei fing alles so vielversprechend an.

Mit der Vergabe des Turniers an die Schweiz im April 2023 war ein erster wichtiger Schritt getan Richtung Weiterentwicklung des hiesigen Fußballs, die Gruppenauslosung recht dankbar, und die Verpflichtung der einstigen Welttrainerin Pia Sundhage im Januar 2024 ein echter Coup. Auch die Bekanntgabe des Kaders, die als landesweite Schnitzeljagd inszeniert wurde, sorgte für erste Euphorie.

Trainerin Pia Sundhage in der Kritik

In den vergangenen Wochen wurde jedoch deutlich, dass rund um das Schweizer Nationalteam nicht alles so vielversprechend verläuft, wie erhofft. Angefangen mit der Trainerin Pia Sundhage. Die 65-Jährige gewann mit den USA zweimal Olympia-Gold und scheiterte bei der Heim-WM 2011 erst im Finale im Elfmeterschießen an Japan. 2013 führte die Schwedin ihre Landsfrauen zum Europameisterinnentitel im eigenen Land, wechselte danach aber zum brasilianischen Fußballverband und nahm mit dem Team 2023 an der Weltmeisterschaft teil.

Was sich erfolgreich liest, soll hinter den Kulissen allerdings nicht ganz so harmonisch abgelaufen sein. Eigene Spielerinnen übten harsche Kritik an ihrem Führungsstil und warfen Sundhage vor, gewisse Spielerinnen zu bevorzugen. Ähnliches ereignete sich nach ihrem Wechsel zu Brasilien. Sie führte die Nation zwar zur WM, schied dort aber bereits in der Vorrunde aus. Ihr Vertrag wurde vorzeitig beendet. Ein Glücksfall für die Schweiz, die sie anschließend unter Vertrag nahm?

Wenn man die Ereignisse der jüngsten Wochen bewertet und Aussagen Schweizer Nationalspielerinnen hört, lässt sich diese Frage nicht so einfach mit Ja beantworten. Da wäre zunächst die Kaderbekanntgabe, die vergleichsweise extrem spät kam (23. Juni) und daher große Unsicherheiten bei einigen Spielerinnen schürte.

Vor allem die Nominierung von Alisha Lehmann avancierte zum ersten großen Streitpunkt. Mehrere Medien hatten zuvor ihre Leistungsfähigkeit infrage gestellt und vermutet, dass die Schweiz aus Sichtbarkeitsgründen kaum auf die 26-Jährige, die 16,7 Millionen Follower auf Instagram und 12 Millionen auf TikTok hat, verzichten kann.

„Kann sich die Schweiz die prominente Absenz leisten?“, titelte etwa die „Neue Zürcher Zeitung“. Lia Wälti, Kapitänin des Schweizer Teams, sprang Lehmann aber zur Seite: „Wir sehen, dass sie genauso viel investiert wie alle anderen. Sie hat enormen Ehrgeiz und ihre Priorität ist auf dem Fußball. Man urteilt einfach extrem schnell, ich glaube, da muss man aufpassen.“

In der Torhüterinnenfrage bekleckerte sich Trainerin Sundhage ebenfalls nicht gerade mit Ruhm. Lange galt Elvira Herzog von RB Leipzig als unangefochtene Nummer eins, vor wenigen Tagen legte sich die schwedische Trainerin plötzlich doch auf Livia Peng fest, die nach der EM von Werder Bremen zum FC Chelsea wechselt. Die schlechte Kommunikation sorgte vor allem intern für große Kritik.

Hinzu kam die möglicherweise schlechte Belastungssteuerung. Mehrere Spielerinnen berichteten, dass auf Verletzungen nur wenig Rücksicht genommen werde. „Es ziehen nicht alle am gleichen Strang, auch der Trainerstab muss sich hinterfragen“, sagte etwa die langjährige Nationalspielerin Ramona Bachmann, kurz bevor sie sich im Trainingslager einen Kreuzbandriss zuzog. Weitere Spielerinnen müssen verletzungsbedingt auf die EM verzichten.

Es ziehen nicht alle am gleichen Strang, auch der Trainerstab muss sich hinterfragen.

Ramona Bachmann, Nationalspielerin für die Schweiz

Pia Sundhage hält sich trotzdem nicht mit ambitionierten Zielformulierungen zurück und spricht vom Titel. „Aber wenn wir an der EM unsere Gegner und das Publikum überraschen wollen, dann geht das nicht mit Schweizer Korrektheit. Das ist unmöglich!“ Die Trainerin möchte etwas wagen und dafür sorgen, dass ihr Team den Druck als willkommene Herausforderung begrüßt. „Versucht etwas! Macht Fehler! Raus aus der Komfortzone, du musst verrückt sein, du wirst Fehler machen!“, sind nur einige ihrer jüngsten Aussagen.

Zu ihrem Spielstil passen diese nicht so wirklich. Mit der Schweiz ist sie auf eine tief stehende Defensive bedacht und nicht gerade für spielfreudigen Offensivfußball bekannt. Vielmehr ist der Erfolg von der Initiative einzelner Spielerinnen abhängig. Hoffnung liegt beispielsweise auf der 21-jährigen Smilla Vallotto, die zum VfL Wolfsburg wechseln wird, oder den beiden 18-jährigen Offensivkräfte Noemi Ivelj (wechselt zu Eintracht Frankfurt) und Sydney Schertenleib (FC Barcelona II).

Die Spielanlage des Schweizer Teams ist zudem nicht wirklich von Erfolg geprägt. In diesem Jahr gelang noch kein einziger Pflichtspielsieg. Auch gegen zwei der drei Gruppengegner bei der EM, Norwegen und Island (dritter Gruppengegner ist Finnland), war in der Gruppenphase der Nations League kein Sieg zu holen. Erst im jüngsten Freundschaftsspiel gelang gegen Tschechien, das nicht annähernd EM-Niveau besitzt, ein 4:1-Erfolg.

Testspiel-Debakel gegen U15

Der vielleicht größte Dämpfer vor dem Turnier war wohl die 1:7-Niederlage gegen die männliche U 15 des FC Luzern in der vergangenen Woche, die einen beispiellosen Shitstorm in den sozialen Medien auslöste. Mal wieder wurden der Männer- und Frauenfußball fälschlicherweise miteinander verglichen und mal wieder wurden zahlreiche sexistische und beleidigende Kommentare abgesetzt.

Auch der Schweizer Fußballverband tat seinen Spielerinnen sicherlich keinen Gefallen damit, das Ergebnis verheimlichen zu wollen. Testspiele gegen Juniorenteams sind schließlich üblich – und ja, auch Niederlagen aufgrund der geschlechterbedingt unterschiedlichen Leistungsfähigkeit.

Und so hat sich die anfängliche Euphorie rund um die Heim-EM mehr und mehr in ein Gefühl der Unsicherheit verwandelt. Die Vorzeichen sind alles andere als ideal – sportlich, personell und kommunikativ. Doch vielleicht liegt gerade darin eine Chance. Ab Mittwochabend in Basel wird sich zeigen, ob das Schweizer Team über sich hinauswachsen kann – oder ob die EM im eigenen Land endgültig zum Symbol verpasster Gelegenheiten wird.

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