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„Man wird uns nicht los“: Englands glücklicher Weg ins EM-Finale
Der Titelverteidiger spielt nicht schön, dafür aber erfolgreich. Vor allem, weil die Engländerinnen Nachwuchstalent Michelle Agyemang im Team haben.
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Im Schnitt braucht Michelle Agyemang etwa sieben Minuten, um ein Tor im Dress des englischen Nationalteams zu erzielen. Die 19-Jährige, die erst vier Länderspiele absolviert hat, traf bereits dreimal. Ihren Debüttreffer im Nations-League-Spiel gegen Belgien erzielte sie gar nach 41 Sekunden. Am Dienstagabend dauerte es elf Minuten, bis sie in der Nachspielzeit Italiens Träume zerstörte und per Abstauber zum Ausgleich traf, der England in die Verlängerung rettete. „Es wollte vorher einfach nicht klappen, aber dann ist Michelle wieder aufgetaucht und hat uns den Tag gerettet“, sagte ihre Teamkollegin Esme Morgan.
Es wiederholt sich in der K.-o.-Phase dieses Turniers, dass England nach einem Rückstand doch noch gewinnt. Schon im Viertelfinale gegen Schweden sah man lange wie der sichere Verlierer aus, zog dann aber durch zwei späte Treffer in die Verlängerung ein und gewann dort im Elfmeterschießen.
Und auch am Dienstagabend in Genf brachen einige italienische Herzen, als erst Agyemang und schließlich Chloe Kelly nach einem Strafstoßnachschuss in der 119. Minute die einstige Führung von Barbara Bonansea zum 2:1 (1:1)-Sieg drehten. „Wir waren schon so oft kurz davor, auszuscheiden, aber man wird uns nicht los“, resümierte Englands Stürmerin Lauren Hemp. Der Titelverteidiger steht damit zum dritten Mal in Folge in einem Endspiel einer EM oder WM. Für Trainerin Sarina Wiegman ist es nationenübergreifend sogar die fünfte Finalteilnahme in Folge.
Schon Stunden vorher gab es im Zug Richtung Genf und dann am Spielort selbst heiße Diskussionen über den Gewinner des Spiels am Abend. Es war ein bunter Mix aus italienischen, englischen und deutschen Fans, die auf eine Halbfinalteilnahme des DFB-Teams gepokert hatten, die auf Platz eins in der Gruppe resultiert hätte. Zumindest deutsche und englische Anhänger waren sich einig, dass schon viel zusammenkommen müsste, damit England nicht die Finalteilnahme gegen Italien klarmacht. Da waren allerdings auch die Schweizer und Italiener, die gebetsmühlenartig betonten, dass Italien nicht zu unterschätzen sei.
Und tatsächlich lieferte das Team von Trainer Andrea Soncin dem amtierenden Europameister einen großen Kampf. In der ersten Halbzeit stritten beide um die Hoheit im Mittelfeld, ohne dass eine Mannschaft die Spielkontrolle endgültig an sich reißen konnte. Nach etwa einer halben Stunde traf Bonansea dann nach einem guten Spielzug über außen und einer Flanke von Sofia Cantore. Die bei dieser EM ohnehin etwas anfällige Defensive Englands sah auch beim Gegentor alles andere als gut aus.
An der Dynamik des Spiels änderte sich in der Folge nicht viel. Erst zwanzig Minuten vor Schluss erhöhten die Engländerinnen zusehends den Druck und kamen zu mehr Abschlüssen. Schön war der Fußball, der trotz der großen individuellen Qualität auf dem Flankenspiel beruhte, aber erneut nicht anzusehen. Von 51 Hereingaben kamen lediglich 16 an, eine sollte schließlich vor die Füße von Agyemang fallen. Kurz zuvor hatte Emma Severini noch das 2:0 nach einer Ecke verpasst, als sie Englands Torfrau Hannah Hampton aus kürzester Distanz anschoss.
Italien hadert mit dem späten Strafstoß
Von diesem späten Schock erholte sich Italien bis zum Abpfiff nicht. England dominierte zumindest die zweite Hälfte der Verlängerung, und nachdem Agyemang noch an die Latte geschossen hatte, traf Ivana Martinčić kurz vor Schluss eine harte Entscheidung.
Sie haben sich gegenseitig festgehalten. War es ein Elfmeter? Ich weiß es nicht.
Andrea Soncin, Trainer des italienischen Nationalteams
Als sich Severini und Beth Mead gegenseitig im Strafraum behakelten und Mead schließlich zu Boden ging, entschied die Schiedsrichterin auf Elfmeter, zu dem Chloe Kelly unter tosenden Anfeuerungsrufen der zahlreichen englischen Fans antrat und erst im Nachschuss verwandelte. „Sie haben sich gegenseitig festgehalten. War es ein Elfmeter? Ich weiß es nicht“, sagte Trainer Soncin. „Natürlich haben wir uns dieses Finale gewünscht, denn es hätte wirklich etwas Unglaubliches, etwas Außergewöhnliches bedeutet“, sagte Italiens Kapitänin Cristiana Girelli. „Leider sollte es nicht sein. Fußball gibt, Fußball nimmt.“
Aus englischer Sicht ist der Finaleinzug sicher nicht unverdient, und doch hat sich in diesem Halbfinale der Eindruck bestätigt, dass der Titelverteidiger spielerisch weiterhin sehr limitiert ist.
Was das englische Team durch dieses Turnier trägt, ist ein großer Kampfgeist, der schier unerschütterliche Glaube an einen Sieg und mit Michelle Agyemang ein Joker, der immer trifft. „Sie hat etwas Besonderes. Sie ist erst 19, aber sehr reif, sie hält den Ball wirklich gut, wenn sie so weitermacht, hat sie eine sehr große Zukunft“, sagte Trainerin Wiegman und fügte hinzu: „Ich habe viele Emotionen, bin erleichtert, glücklich, es fühlt sich surreal an, wieder im Finale zu stehen.“
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