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Missbrauchsvorwürfe im Turnen: Sie fühlen sich benutzt und weggeworfen
Das Turnen erlebt eine schwere Krise. Etliche Turnerinnen äußern Missbrauchsvorwürfe. Im Zentrum steht der Bundesstützpunkt Stuttgart. Erste personelle Konsequenzen wurden gezogen.
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Der Turnvater Jahn, würde er noch leben, wäre stolz. In der Hasenheide legte er einst die Grundlagen des Turnens, und heute, mehr als 200 Jahre später, erlebt die Sportart eine beachtliche Renaissance. Die Mitgliederzahlen in den Vereinen steigen wie seit Langem nicht mehr.
Im vergangenen Jahr verzeichnete der Deutsche Turner-Bund (DTB) einen Zuwachs von fast sechs Prozent bei Turnerinnen und Turnern in Deutschland. Insgesamt sind hierzulande knapp 5,1 Millionen Menschen im DTB organisiert. Turnen ist wieder angesagt, nachdem es in den letzten Jahren von Yoga-, Pilates- und Fitnessstudios verdrängt schien.
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Das Timing für diesen Aufschwung könnte kaum besser sein, denn vom 28. Mai bis 1. Juni dieses Jahres findet das Deutsche Turnfest in Leipzig statt – das größte sportliche Event in Deutschland im Jahr 2025. Hier begegnen sich Breiten- und Spitzensport. Auch ohne die beeindruckenden Mitgliederzahlen und das bevorstehende Turnfest wäre der Fokus 2025 auf das Turnen gerichtet.
Doch während die Sportart Erfolge feiert, wird sie von erschütternden Berichten über körperlichen und seelischen Missbrauch überschattet. Dieses Mal steht der Bundesstützpunkt Stuttgart im Fokus. Sollten die Vorwürfe stimmen, herrscht dort ein menschenverachtendes Klima.
„In Stuttgart wurde ich wie ein Gegenstand behandelt“, schrieb die Turnerin Lara Hinsberger am Dienstag in einem Instagram-Post. „Ich wurde benutzt, bis ich körperlich und geistig so kaputt war, dass ich für die Trainer – und irgendwann auch für mich selbst – keinen Wert mehr hatte.“ Hinsberger befindet sich seit dieser Zeit in psychotherapeutischer Behandlung.
Sie berichtete auch, verletzt trainiert zu haben: „Ich trainierte weiter, bis ich eine Stressfraktur im Schienbein und einen Meniskusriss im linken Bein erlitt. Obwohl der Arzt meiner Mutter sagte, ich dürfe nicht trainieren, wurde das ignoriert. Ich trainierte täglich knapp fünf Stunden nur noch am Barren.“
Bereits zuvor hatten andere Turnerinnen ihre Erfahrungen öffentlich gemacht. Die 17 Jahre alte Meolie Jauch beendete wegen hohen mentalen Drucks ihre Karriere. Am 21. Dezember berichtete Emelie Petz über Essstörungen und Selbstzweifel. Sie musste 2023 ihre Karriere wegen Verletzungsfolgen beenden.
Wenige Tage später, am 28. Dezember, schilderte die frühere Spitzenturnerin Tabea Alt auf Instagram, dass „Essstörungen, Straftraining, Schmerzmittel, Drohungen und Demütigungen (…) an der Tagesordnung“ gewesen seien. Einen Tag später äußerte sich Michelle Timme, ebenfalls ehemalige Turnerin, mit der Aussage: „Diese jahrelangen Missstände machen Menschen kaputt.“
Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieses Thema aufkommt.
Kim Bui, ehemalige deutsche Leistungsturnerin
Auch Kim Bui, die wie Hinsberger, Jauch und Petz in Stuttgart trainierte, äußerte sich im Südwestrundfunk dazu: „Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieses Thema aufkommt.“
Das Problem ist nicht neu. Seit Jahrzehnten tauchen immer wieder Berichte über Missbrauch im Turnen auf. Der bekannteste Fall ereignete sich in den USA: Auf der Károlyi-Ranch in Texas wurden Hunderte Turnerinnen – darunter die Olympiasiegerin Simone Biles – Opfer eines gnadenlosen Drills. Viele von ihnen wurden vom Teamarzt Larry Nassar sexuell missbraucht. 2018 wurde Nassar zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.
Der Leistungssport ist besonders anfällig für Machtmissbrauch und Gewalt – vor allem in abgeschotteten und autoritär geführten Systemen, wie Bettina Rulofs vom Institut für Soziologie und Genderforschung der Deutschen Sporthochschule in Köln vor ein paar Jahren im Gespräch mit dem Tagesspiegel erklärte: „Wenn Trainer oder Ärzte als unverzichtbar gelten, können Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt begünstigt werden.“
Es sei im Sport wie anderswo auch: Eine Karriere könne vorbei sein, wenn man solch drastische Vorwürfe an eine vermeintlich unantastbare Instanz richte, sagt Rulofs: „Das macht es so schwierig, sexualisierte Übergriffe von Menschen in Autoritätspositionen aufzudecken.“
Die Interessenvertretung „Athleten Deutschland“ reagierte in einem Statement ernüchternd auf die jüngsten Vorwürfe. „Die Schilderungen von gravierenden Missständen im deutschen Turnsport haben uns tief erschüttert“, hieß es darin. „Wir fühlen mit den Turnerinnen, die in den vergangenen Tagen – wie schon ihre Kolleginnen vor wenigen Jahren in Chemnitz – großen Mut bewiesen und ihre erschreckenden Erfahrungen öffentlich gemacht haben. Allerdings dürften die Vorwürfe Kenner des Turnsports (...) dies nicht überraschen.“
Die aktuellen Vorwürfe haben große Aufmerksamkeit erregt. Der DTB und der Schwäbische Turnerbund (STB) haben Betroffenheit bekundet und bereits Maßnahmen ergriffen.
Zwei Übungsleiter sind vorläufig bis zum 19. Januar freigestellt worden, wie „Stuttgarter Zeitung“ und „Stuttgarter Nachrichten“ berichteten. Es soll eine Kommission gegründet werden, die mit allen Beteiligten – Turnerinnen, Eltern, Trainern und Verbandsverantwortlichen – spricht.
Doch die Geschichte zeigt: Selbst drastische Maßnahmen führen nicht immer zu langfristigen Verbesserungen. Der Fall Pauline Schäfer-Betz ist ein warnendes Beispiel. Die Schwebebalken-Weltmeisterin hatte 2020 behauptet, dass sie und andere Turnerinnen von ihrer Trainerin Gabriele Frehse körperlich misshandelt worden seien.
Frehse soll die Turnerinnen schikaniert haben und ihnen Medikamente ohne ärztliche Verordnung verabreicht haben. Die Trainerin bestritt die Vorwürfe, der DTB trennte sich von ihr. Trotz der Vorwürfe arbeitet Frehse heute als Auswahltrainerin der Frauen in Österreich. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Vorwürfe gegen sie vor Gericht nicht Bestand hatten. Die Ermittlungen gegen sie wurden eingestellt.
Es bleibt abzuwarten, ob die derzeitige Sensibilisierung tatsächlich zu einem nachhaltigen Wandel im Turnen führt – oder ob das Thema, wie so oft, irgendwann wieder in den Hintergrund rückt.
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