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Auch die Rollstuhlbasketballspielerin Mareike Miller wurde schon zum Meme gemacht.

© IMAGO/Pressefoto Baumann

Paralympische Missgeschicke auf TikTok: Diskriminierung oder Unterhaltung?

Darf man sich über Sportlerinnen und Sportler mit Beeinträchtigungen lustig machen? Ja, meint das Internationale Paralympische Komitee. Im Netz wächst die Kritik.

Von
  • Lilli Heim
  • Tim Hensmann

Stand:

Der offizielle TikTok-Account des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) steht in der Kritik. Seit seiner Gründung 2020 hat der Account mittlerweile mehr als vier Millionen Follower gewonnen. Regelmäßig postet der Account Videos, die Para-Sportlerinnen und Sportler in Aktion zeigen. Darunter auch viel diskutierte Memes.

Während viele diese humorvollen Inhalte als erfrischend und unterhaltsam empfinden, wird zunehmend Kritik laut, dass die Videos respektlos oder gar diskriminierend gegenüber den Athletinnen und Athleten sein könnten.

Ziel des Accounts ist es laut dem IPC, „die fantastischen sportlichen Fähigkeiten und Leistungen der Paralympioniken zu präsentieren, Nischen und Besonderheiten des paralympischen Sports hervorzuheben.“ Sie wollen aber auch zeigen, „dass – wie in jeder anderen Sportart auch – von Zeit zu Zeit Missgeschicke passieren“, so das IPC.

Ein Beispiel eines solches „Missgeschickes“ zeigt den blinden US-amerikanischen Para-Triathleten und Schwimmer Brad Snyder, wie er beim Triathlon in der Wechselzone nach seinem Fahrrad sucht, und mit seinen Händen in der Luft herumtastet. Das Video ist mit Beethovens Klaviersonate Nr. 32 unterlegt. In der Beschreibung des Videos steht: „Para Triathlon is swim, bike and air piano“, übersetzt: „Para-Triathlon ist Schwimmen, Radfahren und Luft-Klavier.“

Zwischen Reichweite und Respekt

In den Kommentaren unter solchen Videos kommt vielfach die Frage auf: Ist es angemessen, sich über die Missgeschicke von Sportlerinnen und Sportlern mit Behinderung zu amüsieren, oder überschreitet der Kanal damit eine Grenze?

Para-Triathlon ist Schwimmen, Radfahren und Luft-Klavier.

Das IPC macht sich auf TikTok lustig über einen blinden Triathleten, der sein Fahrrad sucht.

Während einige Nutzerinnen und Nutzer die Videos als „den besten Lacher seit Jahren“ bezeichnen, fordern andere, dass das IPC aufhören solle, sich über Athletinnen und Athleten lustig zu machen. Dies würde eine Form von Diskriminierung darstellen, da die sportlichen Leistungen der Para-Sportler durch solche Darstellungen entwertet würden, sagen manche Follower des Accounts.

Das sieht auch der wohl bekannteste deutsche Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit, Raúl Krauthausen, so: Die Videos gingen auf Kosten von Menschen mit Behinderung und würden deren sportliche Leistungen als Meme degradieren – vor allem, wenn der Content hauptsächlich von Menschen ohne Behinderung gemacht werde, so Krauthausen in einem Statement auf Instagram. Auf Anfrage bestätigte das IPC jedoch, dass ein ehemaliger paralympischer Athlet, dessen Identität unbekannt bleiben soll, den Account verwaltet.

Auch Daniel Nölleke, Juniorprofessor am Institut für Kommunikations- und Medienforschung der Deutschen Sporthochschule Köln, hat Bedenken. Einerseits sagt er, dass die Videos zwar erste Berührungspunkte für Menschen schaffen können, die sonst keinen Kontakt zum paralympischen Sport haben. Andererseits bestehe die Sorge, „dass negative Ressentiments bedient werden, wenn es bei den Falschen ankommt.“

Die TikTok-Community sei stark auf Unterhaltung ausgerichtet, wobei viele Inhalte auf der sogenannten Meme-Kultur basieren. Diese Kultur verwendet Bilder, Videos oder Musik aus ihrem ursprünglichen Kontext und platziert sie in neuen, oft humorvollen Zusammenhängen. „Solche Memes dienen natürlich dazu, dass sie sich verselbstständigen”, sagt Nölleke. Das ermögliche eine hohe Wiedererkennbarkeit und biete ein enormes Potenzial für virale Verbreitung. „Es ist also immer ein Drahtseilakt.“

In einer Stellungnahme zu den Videos verteidigt das IPC den produzierten Content und sagt: „Um die jüngere Zielgruppe anzusprechen, mussten wir uns von den traditionellen Sportinhalten entfernen.“ Und das mit Erfolg. Die Videos haben mehrere Millionen Aufrufe und generieren neben den „traditionellen Sportinhalten“ eine Menge Aufmerksamkeit für den Paralympics-Account.

Ein Argument, das für Krauthausen nicht zählt: „Es gibt gute und schlechte Aufmerksamkeit. Wenn jetzt alle lernen sollen, dass man über Behinderung lachen kann, dann finde ich, ist es eine fragwürdige Aufmerksamkeit, als wenn man lernt, dass es ja eigentlich um Sport, Wettkampf und um Leistung geht.”

Das sagen die Athleten selbst

Die wohl wichtigste Frage, die im Raum steht: Was halten die Athletinnen und Athleten selbst von dem Content? In einem der umstrittenen Videos ist die Rollstuhlbasketballerin Mareike Miller zu sehen, wie sie mit ihrem Rollstuhl über einen Ball stolpert und hinfällt. Sie selbst sei nicht gefragt worden, ob es in Ordnung für sie ist, wenn das Video hochgeladen wird.

Die 33-Jährige sagte gegenüber web.de, dass solche selbstironischen Videos auf Social Media irgendwie dazu gehören, gibt aber zu bedenken, wer das tut: „Ob ausgerechnet der offizielle IPC-Kanal Videos zeigen muss, in denen sich Sportlerinnen und Sportler ungeschickt anstellen, steht auf einem anderen Blatt.“

Auch Niko Kappel äußert sich auf Anfrage zu dem umstrittenen Content. Neben Videos von seinem Trainingsalltag und Wettkämpfen teilt Kappel auch viele lustige Videos auf seinen Social-Media-Kanälen. Ein Video zeigt einen seiner Freunde in einem Reisebus, der Schwierigkeiten mit der Beinfreiheit hat, während Kappel als Kleinwüchsiger gemütlich seine Beine ausstrecken kann. In der Caption steht: „Hat alles seine Vor- und Nachteile.“

„Ich bin Fan von lustigem Content, aber das muss natürlich alles mit Maß und Ziel sein“, sagt Kappel zu der Diskussion um den IPC-Account. Der Kugelstoßer bekräftigt, dass die Bewertung der Videos situations- und personenabhängig ist: „Man muss in jedem Fall individuell für den Betroffenen entscheiden, ob etwas lustig ist oder nicht.“ Von ihm wurde noch kein Video „zum Meme gemacht“. Auch Medienforscher Nölleke stellt das Empfinden der Sportler und Sportlerinnen und nicht die Intention des Accounts in den Mittelpunkt: „Es ist entscheidend, ob sie sich stereotypisiert oder diskriminiert fühlen.“
 

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