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Rücktritte und Favoritinnendruck: Die schwerwiegende Krone der Löwinnen aus England
Zum ersten Mal seit 55 Jahren geht England als Titelverteidiger in ein großes Fußballturnier. Die „Lionesses“ gelten bei der Frauen-EM als Mitfavorit, müssen aber mit einer ungewohnten Rolle umgehen.
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Am berühmten Oxford Circus im Herzen von London hängt in diesen Tagen ein riesiges Werbeplakat. Die Touristen und Einkäufer können es sehen, wenn sie von der U-Bahn zur Straßenebene aufsteigen. Wie eine Bande Auftragskiller in einem Hollywood-Blockbuster blicken da vier englische Nationalspielerinnen zu ihnen herunter. „Admire England – Fear the Lionesses“, lautet der Text neben ihnen: Bewundere England – befürchte die Löwinnen.
Das klingt selbstbewusst. Und vor dem EM-Auftakt gegen Frankreich an diesem Samstag (21 Uhr/ZDF) ist die Vorfreude auf der Insel tatsächlich groß. Zum ersten Mal seit 1970 geht eine englische Fußballnationalmannschaft als Titelverteidiger in ein großes Turnier. Drei Jahre nach dem Triumph im eigenen Land wollen die Europameisterinnen von 2022 es allen noch einmal zeigen.
Doch wie Shakespeare einst geschrieben und der Londoner Rapper Stormzy später gesungen hat: Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt. Die Rolle der Throninhaberinnen ist für England Neuland und schon jetzt gibt es Fragen, wie man in den nächsten Wochen damit umgeht.
Wir haben eine Zielscheibe auf dem Rücken, doch wir wissen, was wir können.
Alessia Russo, Stürmerin der „Lionesses“
„In meiner Erfahrung gibt es vor einem großen Turnier immer viel Lärm“, sagte Trainerin Sarina Wiegman Anfang diese Woche. „Der Unterschied ist jetzt, dass der Frauenfußball nun viel sichtbarer ist und viel mehr Menschen interessiert. Es wird also mehr gesprochen, es sind mehr Journalisten hier. Damit müssen wir klarkommen.“
Tatsächlich hat sich einiges geändert in den vergangenen drei Jahren. Als die „Lionesses“ bei der vergangenen EM antraten, schwebte der englische Frauenfußball auf einer Welle der Euphorie. Die Nationalmannschaft hatte noch kein einziges Spiel unter der Niederländerin Wiegman verloren und die Nation sehnte sich nach einem Sommermärchen.
Heute ist es komplizierter. Mehrere Europameisterinnen von damals sind bei dem Turnier in der Schweiz nicht mehr dabei: Während Legionärinnen wie Jill Scott und Ellen White direkt nach dem Finale von Wembley aufhörten, ist der Bruch bei anderen noch etwas frischer.
Allein in den vergangenen fünf Wochen kündigten die einstige Ballon-d’Or-Kandidatin Fran Kirby, Kult-Torhüterin Mary Earps und Chelsea-Kapitänin Millie Bright aus unterschiedlichen Gründen ihre Rücktritte der Nationalmannschaft an. Wie Wiegman zugab, habe das für „Lärm“ gesorgt und die Vorbereitung auf die EM ein Stück weit überschattet.
Dazu kommen andere Probleme: Wichtige Spielerinnen wie Georgia Stanway vom FC Bayern kämpfen seit Monaten mit Verletzungsproblemen, und die Ergebnisse in der Nations League waren zuletzt etwas durchwachsen. Neben einigen hohen Siegen gab es auch Niederlagen gegen Belgien sowie Angstgegner Spanien. All das erhöht den Druck und schafft eine etwas andere Ausgangsposition als 2022.

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„Von Außen gibt es immer Druck auf die englische Nationalmannschaft, ob das wir sind oder die Männer“, sagte zuletzt Stürmerin Alessia Russo, die seit dem Rücktritt von White im Sturm gesetzt ist und mittlerweile als größter Star der Mannschaft gilt. „Wir haben eine Zielscheibe auf dem Rücken, doch wir wissen, was wir können.“
Dabei kann man den Eindruck nicht abschütteln, dass England sich in der Außenseiterrolle – oder zumindest in der Rolle des aufstrebenden Herausforderers – wohler fühlt. Russo ist eine von sechs Nationalspielerinnen, die zuletzt mit Arsenal die Champions-League gewinnen konnten. Auch da glänzte man eher als Nicht-Favorit und setzte sich allen Erwartungen zum Trotz gegen den großen FC Barcelona durch.
An jenem Erfolg will man nun anknüpfen. Für die amtierenden Europa- und Vizeweltmeisterinnen liegt die Kunst wohl darin, die Favoritenrolle wie eine ganz neue Herausforderung zu interpretieren. Da könnte es vielleicht sogar helfen, dass man in der Gruppe D kein allzu einfaches Los erwischt hat.
Sowohl Frankreich als auch die Niederlande gehören mindestens zum erweiterten Kreis der Titelkandidaten, und auch Turnier-Debütant Wales dürfte gegen den großen Nachbarn besonders motiviert sein.
Favorit bleibt England trotzdem und alles andere als der Einzug in die K.-o.-Phase wäre für den Titelverteidiger eine herbe Pleite. Zwölf Jahre ist es mittlerweile her, dass Englands Frauen zum bislang letzten Mal bei einem großen Turnier nichts ins Halbfinale kam. Eigentlich gehören sie schon längst zur Weltspitze. Nur: Dieses Mal sind die Erwartungen höher denn je.
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