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Zum Tod von Diego Maradona: Der Mythos, der Spieler, der Undurchschaubare

Diego Maradona war in Argentinien ein Mythos - und riskierte seinen Status immer wieder. Auch als Nationaltrainer. Eine Reportage aus dem Jahr 2009.

Dieser Artikel erschien zuerst im August 2009, als Diego Maradona Nationaltrainer von Argentinien war. Anlässlich seines Todes veröffentlichen wir ihn hier erneut.

Über dem Stadion von Santa Fé wird es dunkel, als Diego Armando Maradona sein Leben betrachtet. Zwei Uhren an den Handgelenken glitzern im Flutlicht mit seinen Ohrsteckern um die Wette. Der Stadionsprecher hat ein Video, eine „Hommage an Diego, den Größten aller Zeiten“ angekündigt. Die Beine gespreizt, die Arme verschränkt, blickt Maradona auf die Anzeigetafel: ein schmales Kind, das auf einem Platz voller Schlaglöcher den Ball hochhält; ein junger Kerl mit wilden Locken, der Purzelbäume über den Rasen schlägt; und Tore, nichts als Tore, nach Freistößen, nach Ecken, nach Dribblings, Tore vom Mittelkreis, Lupfer, Abstauber. Zehntausende im Stadion singen: „Maradooo! Maradooo!“, eines von dutzenden Liedern, die auf ihn komponiert wurden.

Regungslos steht Diego Armando Maradona da, den Kopf im Nacken, sechs lange Minuten ziehen die großen Szenen seines Lebens an ihm vorüber. Sie liegen alle weit in der Vergangenheit.

Ein paar Wochen davor, am 1. April, verlor die argentinische Nationalmannschaft gegen Bolivien in La Paz. Mit 1:6. Es war das zweite WM-Qualifikationsspiel mit Maradona als Trainer. „Eine historische Tracht Prügel“, „Die Welt sieht eine schmachvolle Niederlage“, schrieben die argentinischen Zeitungen. Kurz darauf stand in Berlin mein Chef im Büro, blickte in die Ferne, breitete seine Arme aus und sagte: „Ich sehe: Maradona! Zwei Seiten! Verfolgen Sie ihn, sprechen Sie mit Leuten, die ihn kennen, interviewen Sie ihn!“ Ich dachte: Über Maradona weiß man doch alles. Wozu also wochenlang einem kleinen, dicken Mann hinterherjagen?

Doch dann, in Santa Fé, sind die Zweifel verschwunden. Denn Maradona steht als Trainer auf dem Platz, aber die Fans feiern den Spieler. Schon einige Male hat Maradona sein Leben aufs Spiel gesetzt. Aber jetzt, als Trainer, riskiert er etwas, das über sein Leben hinausragt: seinen Mythos.

Sieben Wochen Argentinien. Sieben Wochen, um einem Menschen nahezukommen, der berühmter ist als Michael Jackson, in Neapel wie ein Heiliger verehrt wird und in Argentinien seine eigene Religionsgemeinschaft hat, die Iglesia Maradoniana, die an seinem Geburtstag Weihnachten feiert. Maradona hat, unter anderem, die argentinische Meisterschaft gewonnen, die spanische, die italienische, den Uefa-Pokal – und die WM in Mexiko 1986 fast im Alleingang, mit zwei unmöglichen Toren gegen England: eins wurde die „Hand Gottes“, das andere das „Tor des Jahrhunderts“. Er nahm Drogen, verfettete, wäre an seinen Exzessen fast gestorben. Sein Spitzname ist „D10s“, was man im Spanischen als „Diez“, zehn, lesen kann, seine Rückennummer. Oder als „Dios“: Gott.

In diesen sieben Wochen werde ich die Telefonnummer von Maradonas Schwiegersohn auswendig lernen, Fotos aus fahrenden Autos schießen, Informanten auflauern, einen Wurstboten treffen. Und ich werde jeden Morgen aufs Neue den Mann im Kiosk erschüttern, weil ich eine Frau bin und trotzdem eine Sportzeitung kaufe.

Santa Fé also, 600 Kilometer von Buenos Aires entfernt, am Rande der argentinischen Pampa. Es ist Mitte Mai, ein Freundschaftsspiel gegen Panama, ohne die Stars aus Europa, mit jungen Spielern aus der argentinischen Liga, von denen nur ein einziger auch zum Stammkader gehört. Dieses Spiel, die argentinischen Journalisten schütteln abfällig den Kopf, interessiere nun wirklich absolut niemanden. Es sind auch bloß 150 von ihnen angereist.

Den Tag vor dem Spiel lauern sie in der Lobby des Fünfsternehotels, in dem die Mannschaft wohnt. Ich lerne die Grundregeln des argentinischen Sportjournalismus: 1. Man muss sich mit Wangenküssen begrüßen und dazu ein ernstes Gesicht machen. 2. Man muss ausdauernd telefonieren können, ebenfalls mit ernstem Gesicht. 3. Man muss ein Mann sein. Die einzigen Frauen in der Lobby sind vier Hostessen des Hotels mit langen Haaren und kurzen Röcken. 4. Wenn ein Spieler runterkommt, dann hält man ihm einen dichten Bart aus Mikrofonen und Handys hin, in die dieser Sätze spricht wie: „Mir zittern die Knie, wenn Maradona mit mir spricht“ oder „Ich fühle mich wie ein kleiner Junge“. Die Röcke der Hostessen sind wirklich sehr kurz.

Draußen vor dem Eingang ist die Luft drückend, ein dicker Mann steht rauchend auf der Treppe und schwitzt verzweifelt vor sich hin. Wann denn endlich Maradona käme, fragt er. Er arbeite für eine Fleischfirma hier in Santa Fé und habe extra für Maradona ein Paket mit regionalen Wurstwaren geschnürt, das er ihm überreichen wolle. Wenn Maradona sich nicht blicken lässt, müsse er das alles heute Abend selbst essen. Und obwohl die Journalisten in der Lobby so beschäftigt tun, eigentlich sind sie nicht anders als der Mann draußen: Sie warten einfach nur. Sie warten auf Maradona.

Doch von dem ist nichts zu sehen. Erst am Abend, während irgendwo in der Stadt einer traurig Paprikawurst kaut, gibt Maradona eine Pressekonferenz. 48 Jahre ist er jetzt alt, sein Dreitagebart grau. Er hat das Kinn vorgeschoben und leicht hochgereckt, die Augen sind ernst, die Brauen zusammengezogen, die Stirn ist gefurcht. Seine Haare glänzen, zurückgekämmt enden sie wie eh und je im Nacken in einem enormen Spoiler. Maradona bewegt sich kaum, und wenn doch, steigt die Klickfrequenz der Kameraauslöser rapide: Maradona kratzt sich am Kinn klickklickklick Maradona reibt sich das Auge klickklickklick Maradona lächelt klickklickklick. In undurchschaubarer Reihenfolge wandert das Mikrofon von Journalist zu Journalist. Alle nennen ihn Diego. Einer fragt ihn nach der Aufstellung. „Für Argentinien zu spielen“, sagt Maradona, „ist etwas Besonderes, die Jungs müssen das Trikot fühlen! Sie müssen dafür kämpfen! Dafür sterben! Als ich zur Nationalmannschaft gerufen wurde, da bin ich am nächsten Tag mit geschwollener Brust … Was war noch mal die Frage?“

Als ob die Aufstellung irgendwen interessierte. Auch das Ergebnis am nächsten Abend, 3:1, ist Nebensache. Seit Maradona im Oktober 2008 Nationaltrainer wurde, geht es nur um ihn. Und ob er es schafft, mit Argentinien 2010 die WM zu gewinnen. Denn das, hat er selbst gesagt, ist sein Ziel, „sonst hätte ich ja weiter gemütlich im Sessel Fernsehen gucken können“.

Als Spieler hat Maradona alles gewonnen. Aber als Trainer in den 90ern bei zwei kleinen Clubs lediglich drei Partien von 23. Vor Jahren antwortete er auf die Frage, ob er es nochmal als Trainer versuchen wolle: „Nein, nein, dicke Trainer haben keinen Erfolg.“ Zwischen diesem Interview und seiner Ernennung zum Nationaltrainer liegen: eine künstliche Beatmung, eine Magenverkleinerung, die Moderation einer erfolgreichen Fernsehshow, ein Alkoholentzug. Und eine Intrige.

Eigentlich, so habe ich es in den endlosen Stunden in der Hotellobby erfahren, hatte der argentinische Fußballverband AFA mit Maradonas Vorgänger Alfio Basile für die WM 2010 in Südafrika geplant. Aber Maradona freundete sich während der Olympischen Spiele in Peking mit den jüngeren Nationalspielern an, mit Messi, mit Gago, mit Aguero, dem Ehemann seiner Tochter Giannina. Er sagte ihnen, dass er der Nachfolger von Basile werde, wenn der gehen muss. Dass die Mannschaft in den folgenden Begegnungen so schlecht gespielt habe, sei kein Zufall gewesen. Außer Maradona war noch Carlos Bianchi Kandidat für den Trainerposten, der erfolgreichste argentinische Trainer überhaupt, den der Präsident der AFA aber nicht leiden kann. Und so ist es eben Maradona geworden.

Ich fragte, warum niemand über diese Intrige geschrieben habe? Aus Angst vor Maradona. Sie seien schließlich darauf angewiesen, dass er mit ihnen rede.

Selbst wenn man sich nicht den Zorn des „D10s“ zugezogen hat, ist es fast unmöglich, ein Interview mit ihm zu bekommen. Ein paar Tage später, zurück in Buenos Aires, erzählt mir Antonio Serpa über einem großen Stück Grillfleisch mit großer Fettschwarte von seinem einzigen Interview mit Maradona. Antonio ist seit fast 20 Jahren Journalist, er schreibt für die täglich erscheinende Sportzeitung „Olé“ Fußballartikel, die man Literatur nennen könnte, bindet seine schwarzen Locken zum Zopf und würde sich dafür schämen, eine Frau das Essen bezahlen zu lassen.

Für ein Interview mit Maradona, sagt er, braucht man Glück. Zufällig saßen sie im selben Flugzeug auf dem Rückflug von der WM 2006. Maradona habe Lust zu reden gehabt und geredet: Über den Pianisten im Hotel, der nach der Niederlage gegen Deutschland „Don’t cry für me Argentina“ gespielt hätte. Und wie unfassbar es sei, dass eine argentinische Mannschaft, die im Viertelfinale ausgeschieden ist, trotzdem von jubelnden Fans empfangen wird. Maradona trank einen Baileys auf Eis nach dem anderen, während Managerin und Ex-Frau Claudia tütenweise Parfüm einkaufte.

Antonio schiebt mir eine Handynummer über den Tisch, von Fernando Molina, der erst Freund von Maradonas Tochter Dalma und dann Maradonas Pressechef wurde. „Sei froh, wenn Du zehn Minuten bekommst.“

Anruf bei Fernando Molina: Mailbox. Ich bitte um ein halbstündiges Interview und hinterlasse meine Nummer.

Zwei Wochen bis zum nächsten Länderspiel Anfang Juni. Ich lese die Autobiografie „Ich bin Diego“. Ich bitte Fernando Molina um Rückruf. Ich blättere im Buchladen „Diego Armando Maradona – Mein Leben in Bildern“ durch. Ich hinterlasse Fernando Molina noch mal meine Nummer. In der Videothek leihe ich mir „Amando a Maradona“ und „Maradona by Kusturica“ aus. Mailbox. Ich biete auf Ebay für die große Maradona-DVD-Box mit 12 DVDs („Seine besten Tore“, „Seine genialsten Tricks“, „Diegos größte Geheimnisse“), als ich überboten werde, bin ich am Boden zerstört. Mailbox, Mailbox, Mailbox. 14 Mal wähle ich Fernando Molinas Nummer, hinterlasse meine, bitte um Rückruf. Erfolglos. Grundregel 2 beherrsche ich jetzt perfekt: Ich telefoniere ausdauernd und mit ernstem Gesicht.

Anfang Juni. Die Nachmittagssonne zeichnet lange Schatten auf das Trainingsgelände der AFA, einem großen Park neben der Flughafenautobahn mit hohen Bäumen und einer eigenen Kirche. Training vor den wichtigen WM-Qualifikationsspielen gegen Kolumbien und Ecuador, hinter den Journalisten und Fotografen, die sich an den Zaun pressen, brummen Übertragungswagen. Drei Sender zeigen das Training live, drei Stunden inklusive Pressekonferenz. Am Zaun versichern drei Reporter von TYC-Sports sich und den Zuschauern seit 20 Minuten, welch vielfältige Vorteile das Trainingslager hat. Einen ganzen Tag früher, berichtet der Kleine mit dem Maradona-Spoiler im Nacken, habe Diego das Trainingslager einberufen! Das Fundamentale, doziert der Große mit der Narbe auf der Wange, sei das Ausruhen, das ginge hier besser als zu Hause. Denn dort, ergänzt der Grauhaarige, gäbe es ja Familie, Freunde, schreiende Kinder. Diese kurze Zeit, die sie aus Europa angereist seien, jetzt ist wieder der Kleine mit dem Spoiler dran, sei für die Spieler stressig. In sieben Tagen wollten sie all das machen, wozu sie in den Ferien Wochen brauchten: Die Familie sehen, die Freundin … Und die Freunde!, sagt der mit der Narbe. Und die Tanten!, der Grauhaarige. Ich ergänze Grundregel 5: Berichte nicht das Wichtigste, sondern einfach alles.

Auf dem Feld rechts spielen Messi, Aguero, Gago, Demichelis und die anderen Fuß-Volleyball, immer fünf gegen fünf. Ein Spieler fehlt: Juan Román Riquelme, der Spielmacher, die Nummer zehn der Boca Juniors und der Nationalmannschaft. Zweimal die Zehn, zwei Diven, ein Kurzdrama im März auf der argentinischen Fußballbühne. Maradona wagte es, Riquelmes Fitness anzuzweifeln: „So kann ich ihn keinesfalls gebrauchen.“ Beleidigt trat Riquelme von der Nationalmannschaft zurück. Am nächsten Liga-Spieltag hingen in der Bombonera, dem Stadion von Boca, nur Plakate, die Riquelme unterstützten. Ein Stich ins Herz von Maradona, die Fans seines geliebten Boca hatten ihm die Liebe entzogen. Seitdem ist die Ehrenloge, von der er bei jedem Heimspiel die Mannschaft wie ein Verrückter angefeuert hatte, verwaist.

Zum ersten Mal spürte Maradona: Eine glorreiche Vergangenheit überstrahlt nicht immer die Fehler der Gegenwart. Zumindest nicht, wenn es um die Nationalmannschaft geht.

Von dem Feld weiter links tönen martialische Schreie herüber. Torwarttraining, Chefsache. Maradona schießt von der Strafraumgrenze, schwerfällig läuft er an, mit aufgeplusterten Wangen, denen mit jedem Schuss ein „Uuuahhh!“ entweicht. Wenn der Torwart hält, schreit er ein „Bieeeeeeeen!“ hinterher. Er schreit sehr, sehr oft „Bieeeeeeen!“. Wenn nicht, ist der Ball meist am Kasten vorbeigeflogen.

Fernando Molina kommt, ein kleiner Kerl Anfang 20 mit Brauenpiercing und schläfrigen Lidern. Ich begrüße ihn gemäß Regel 1 mit Wangenküssen und ernstem Gesicht. Nach den beiden Spielen, versichert er, klappe es ganz bestimmt mit dem Interview. Ich solle ihm doch mal meine Nummer mailen.

Pressekonferenz, Maradona schnauft laut ins Mikrofon. Dann wettert er los: gegen Sergio Batista, Trainer der Junioren-Nationalmannschaft, der sich in einem Interview beschwert hatte, Maradona rede nicht mehr mit ihm. „Hat er seine Tage? Will er, dass ich ihn auf den Mund küsse?“ Gegen den Rasen des Monumental-Stadions: „Der Platz auf dem ich als Knirps spielte, war besser!“ Gegen AFA-Präsident Grondona, der sich nicht um ein anderes Stadion bemüht hätte: „Er ist langsamer als eine Schildkröte!“

Die Hälfte meiner Zeit ist verstrichen. E-Mail an Fernando Molina: „20 Minuten mit Maradona“, schreibe ich, „würden mir völlig ausreichen.“

„Die Leute verehrten mich … aber sie waren alle wahnsinnig!“ steht in Maradonas Autobiografie. Ich war diesem Wahnsinn bisher dreimal begegnet: 1. Luis, der Wurstpaketbote. 2. ein Korrespondent von „L’Equipe“, der während der Pressekonferenz zittrig ein paar Fotos in der Hand hielt, „ich will ein Autogramm für meinen Vater“ flüsterte, sich zum Mittelgang durchquetschte, in der Hocke bis nach vorn watschelte und, als die Konferenz vorbei war, sich mit einem „Dieeegooo!“ auf das Podest warf, die Fotos in die Luft gereckt. 3. ein Fotograf in der Mixed Zone, der vor Jahren Maradona um ein Autogramm gebeten hatte – auf seine Schulter. Am nächsten Tag ließ er sich das Autogramm eintätowieren.

Diese Verehrung, jemand muss sie erklären: César Luis Menotti, genannt „el Flaco“, der Dürre. Der legendäre Trainer, mit dem die argentinische Nationalmannschaft 1978 die WM im eigenen Land gewann. Maradona sagt über ihn in seiner Autobiografie: „El Flaco war, er war Gott!“

Menotti, hatte Antonio gesagt, gehe nie ans Telefon. Dafür sei er ganz leicht zu treffen: In der „Confitería St. Moritz“ esse er immer zu Mittag. Das „St. Moritz“ ist ein in die Jahre gekommenes Café im Zentrum von Buenos Aires, mit roten Kunstlederstühlen und alten Obern, die Kaffee aus Blechkannen einschenken. Ein passender Ort für einen, dessen Fußballphilosophie auch ein wenig aus der Mode geraten ist. In Argentinien heißt sie „Menottismo“: kreativ spielen, um zu gewinnen. Das Gegenmodell ist der „Bilardismo“: gewinnen, egal wie, benannt nach Carlos Bilardo, der als Trainer 1986 mit Maradona die WM gewann. Bei der WM 1990 soll Bilardo dem brasilianischen Spieler Branco während des Spiels eine Wasserflasche gereicht haben, in der Schlafmittel war. Heute ist Bilardo Maradonas Teammanager. Zwei Philosophien also, die das Land spalten. Es gibt in Argentinien auch den „Peronismo“, den „Menemismo“ und den „Kirchnerismo“, aber das sind politische Bewegungen. Also nichts von Belang.

Gegen eins kommt „El Flaco“, er bestellt sich ein Schinkensandwich. Nachmittags habe er Zeit für ein Interview, sagt er, in seinem Büro um die Ecke. In der Zwischenzeit rufe ich Fernando Molina an, den ich jetzt Fernando nenne. Die automatische Stimme der Frau auf seiner Mailbox ist mir vertrauter als die meiner Mutter. Ob er meine Mail bekommen habe? Wenn nicht, könne er mich jederzeit zurückrufen.

In Menottis Büro, fünf Stockwerke über dem Straßenlärm, hängen an den Wänden Fotos aus der Zeit, als seine Haare weniger dünn waren und seine Tränensäcke noch nicht so tief hingen: Menotti mit Cruyff, mit Pelé, mit Platini, mit Maradona, mit dem Schriftsteller Jorge Luis Borges, neben dem Menotti selbst aussieht wie ein junger Poet. Ein Foto von Che Guevara. Und auf dem Schreibtisch liegt, neben einem Gartenbildband, ein Buch: „Mitos Argentinos“, argentinische Mythen.

„Senor Menotti, ist Maradona ein argentinischer Mythos?“

„Allein die Tore gegen die Engländer machen ihn zum Mythos. Ausgerechnet gegen England, den Feind aus dem Falkland-Krieg! Und die Menschen lieben ihn, weil er immer die Mächtigen angegriffen hat. Sie hatten das Gefühl: Da sitzt einer von uns auf dem Stuhl neben den Mächtigen und traut sich, zu sagen, was er will. Sie glauben, Diego repräsentiert sie. Und deshalb glauben sie, er gehöre ihnen.“

„Sie kennen Maradona, seit er 16 ist. Was ist er für ein Mensch?“

„Wer oder wie er wirklich ist, das ist schwer zu sagen. Als er süchtig war, zeigte er seine Sucht so öffentlich, als würde er sie spielen. Wenn er nach Kuba zu seinem Freund Fidel reist, dann spielt er den Revolutionär. Maradona schauspielert das Leben, in seinen Erfolgen und seinen Niederlagen. Und jetzt setzt er ein Trainergesicht auf und spielt den Nationaltrainer.“

„Braucht das Team nicht auch eher einen Motivator als einen Trainer?“

„Das ist Unsinn. Wenn der beste Geiger der Welt mit den Berliner Symphonikern spielt, dann braucht er einen guten Dirigenten, der den Einsatz gibt, wann der Solist mit seinem Solo brillieren darf. In der Literatur ist es genauso, Borges sagte einmal: Literatur ist Ordnung und Abenteuer. Und das stimmt auch für den Fußball: Ein Trainer braucht eine Strategie, ein Projekt.“

Ich erinnere mich an einen von Maradonas berühmtesten Sprüchen. Gefragt, was er in der Zukunft so plane, sagte er: „Was weiß ich! Ich weiß ja nicht einmal, was ich in der nächsten Viertelstunde mache.“ Menotti sagt es zwar nicht. Aber so wie er den idealen Trainer beschreibt, kann er nicht Maradona meinen.

Menotti hat seinen Trainer-Diskurs mit Sokrates beendet. Er zieht mit langen schmalen Fingern eine Parisienne aus der Schachtel und zündet sie an. Dann erzählt er von Alfredo di Stéfano, dem großen argentinischen Stürmer von Real Madrid. Als er Trainer von Real werden wollte, schmiss ihn der Präsident aus dem Verein, mit der Begründung: Di Stéfano sei der Größte in Madrid, und wenn er mit Real gewonnen hätte, dann wäre er immer noch der Größte gewesen. Aber wenn er verloren hätte, hätte er all seine Erfolge zerstört. „Genauso“, sagt Menotti, „ist es mit Diego.“

Das Spiel am 6. Juni gegen Kolumbien gewinnt Argentinien glücklich mit 1:0, das System mit Messi, Aguero und Tevez vorn hat überhaupt nicht funktioniert. Gegen Ecuador vier Tage später verzichtet Maradona auf Aguero, seinen Schwiegersohn, Argentinien spielt besser, aber Ecuador gewinnt mit 2:0. Es ist, so die Zeitung „La Nación“, von den letzten vier WM-Qualifikationen die schlechteste. In der Gruppe der zehn südamerikanischen Mannschaften, von denen sich die ersten vier direkt qualifizieren, führt Argentinien zum ersten Mal nach 14 Spielen nicht die Gruppe an. Nur zwei Punkte trennen die Blauweißen vom 5. Platz. Vier Spiele stehen noch aus. Das nächste, am 5. September gegen den ewigen Rivalen Brasilien, muss unbedingt gewonnen werden.

„Wir haben sie nicht zum Spielen kommen lassen, wir haben die Seiten zugemacht und viele gute Chancen gehabt. Es ist nicht zu glauben“, sagt Maradona nach dem Ecuador-Spiel auf TYC Sports. Er zeigt mit seinem linken Fuß, wie Gago den Ball hätte reinmachen können, als er allein vor dem ecuadorianischen Torwart stand. Gago hat ihn nicht reingemacht.

Vielleicht ist das genau das Dilemma: Maradona darf den Ball nicht mehr berühren. Er hat den Ball immer geliebt, als Kind soll er mit ihm im Arm geschlafen haben, als Spieler machte er mit ihm, was er wollte. Wenn er den Ball hatte, schien er im Gleichgewicht zu sein. „Fußballspielen gab mir ein einmaliges Gefühl von Ruhe“, sagte er einmal. Jetzt tänzelt er unruhig an der Seitenlinie, und es sieht aus, als wolle er sich am liebsten gleich selbst einwechseln. Aber er kann nicht. „Er spricht mit uns von Spieler zu Spieler“, sagte Verteidiger Gabriel Heinze nach dem ersten Spiel mit Maradona als Trainer. Er meinte es als Lob. In Wirklichkeit ist es Maradonas Schwäche.

Piiiieep. „Fernando, die Spiele sind jetzt vorbei. Es wäre toll, wenn du mich anrufen würdest.“

Die Autobiografie von Maradona, die in 28 Sprachen übersetzt wurde, hat Daniel Arcucci geschrieben. Er leitet das Ressort Sport der Zeitung „La Nación“, ein schmaler Mann mit grauem Kinnbart, der sehr schnell redet. In den 24 Jahren, die er Maradona kennt, sind von Arcucci mehr als 200 Artikel über ihn erschienen.

„Maradona“, sagt Daniel Arcucci, „braucht Hilfe.“ Einen Trainerstab, der die Arbeit auf dem Platz übernehme. „In manchen europäischen Klubs gibt es Trainer für Verteidiger, für Mittelfeldspieler, für Stürmer … Die Nationalmannschaft hat nicht mal einen Torwarttrainer, weil Maradona das nicht will. Er versucht, die Trainingsarbeit durch sein Charisma zu ersetzen. Das ist seine Stärke. Aber die langweilige Arbeit muss auch gemacht werden.“

Am Tag, als Maradona Trainer wurde, schrieb Arcucci: „Diego riskiert den Mythos Maradona. Er ist auf die Erde hinabgestiegen.“ Diese Meinung vertritt er noch immer. „Natürlich ist Diego der Held, der den Engländern zwei unglaubliche Dinger reingemacht hat. Doch aktuell ist er der, der uns sechs Tore in Bolivien eingebrockt hat. Das ist Alltag, mit Mythos hat das nicht mehr viel zu tun.“ Seit der Niederlage gegen Bolivien flögen die Steine auf das Denkmal von Diego Armando Maradona.

Aber warum tut er sich das an? „Ich glaube, er will keine wandelnde Statue sein“, sagt Daniel Arcucci. Drogen, Doping, Alkohol – die größten Steine auf sein Denkmal hatte Maradona noch immer selbst geworfen. Aber bisher verziehen ihm die Argentinier Skandale: „Maradona ist sehr argentinisch. Er versucht, Dinge zu erreichen, die unerreichbar scheinen, aber zugleich ist er ein bisschen faul. Er ist kreativ und einfallsreich, aber nicht sehr fleißig. Er repräsentiert uns im Guten und im Schlechten.“

Für ein Interview mit Maradona, sagt Daniel Arcucci, brauche man Geduld. Man müsse immer da sein und warten, Maradona sei absolut unvorhersehbar. Als Maradona noch bei Boca spielte, habe er Arcucci einmal in sein Auto gewinkt, sei zum Flughafen gefahren, dort stand eine Maschine abflugbereit. „Wo geht es hin?“ – „Nach Punte del Este, steig ein!“ Und dann sei er eben mit Notizblock und Aufnahmegerät mit Maradona nach Uruguay an den Strand geflogen. Ich merke: Flugzeuge scheinen bei Interviews mit Maradona eine wichtige Rolle zu spielen.

Die letzte Woche bricht an. Ich weiß mittlerweile, dass Maradonas Frau Claudia ihm zum 33. Geburtstag einen irrsinnigen Versace-Slip schenkte und dass Julio Iglesias sein Lieblingssänger ist. Ich kann die Reihenfolge von Maradonas Ballhochhalten auswendig: Spann, Oberschenkel, Kopf, Schulter, Rücken. Ich habe die wichtigsten Spitznamen des argentinischen Fußballs entschlüsselt: „El Flaco“ (der Dürre) – Menotti. „El Narigón“ (die Großnase) – Bilardo. „La Saeta Rubia“ (der blonde Pfeil) – di Stefano. „La Pulga“ (der Floh) – Messi. Meine argentinischen Freunde halten mich für einen halben Mann. Ich muss Maradona jetzt einfach treffen.

Die Mailbox von Fernando Molinas Telefon macht mich rasend. „Die Wut war eine Art Antrieb“, lese ich in „Ich bin Diego“. Ich gebe nicht auf. Ich rufe Menotti an, den ich jetzt César nenne, und bitte ihn um Hilfe. Er gibt mir die Nummer von Fernando Signorini, einem Vertrauten von Maradona, den ich zwei Tage später anrufen soll. Signorini sagt mir, er werde mit Molina reden. „Es ist leichter, im Ausland ein Interview mit Maradona zu bekommen, in ein paar Wochen haben wir ein Freundschaftsspiel in Moskau, komm doch vorbei!“ Es klingt, als wäre Moskau ein Vorort von Berlin.

Eine halbe Stunde später meldet er sich wieder: „Molina hat jetzt sein Handy eingeschaltet!“ Ich wähle die Nummer, es tutet, und dann, ein Wunder: eine Stimme. „Fernando, ich fliege in drei Tagen, bitte, nur zehn Minuten!“ Heute Abend, verspricht er mir, werde er Diego fragen. Er habe übrigens die letzten Tage Grippe gehabt und deshalb nicht abheben können.

Ich kaufe zwei Trikots, ein paar Poster und einen wasserfesten Stift. All das trage ich nun immer bei mir. Für alle Fälle.

Es bleiben 72 Stunden. Ich stoppe ein Taxi, ich will mir wenigstens Maradonas Finca in Ezeiza anschauen, einer Kleinstadt vor Buenos Aires, in der auch das Trainingsgelände der AFA und der Flughafen liegen. 40 Minuten Fahrt sind es bis zu dem Viertel, in dem Maradonas Finca stehen soll. Schmale Straßen, Bäume, grüne Hecken, keine Gated Community, hinter der sich die Superreichen Argentiniens gern verschanzen. Mit seiner 21 Jahre jüngeren Freundin Veronica zog Maradona vor zwei Jahren hierher, nachdem ihn eine Bauchspeicheldrüsenentzündung fast umgebracht hatte. Wochenlang hatte er sich in den Clubs der Stadt mit Champagner volllaufen lassen, seinem Kokainersatz. Er musste raus aus der Stadt.

Ein roter Wagen fährt langsam durch die Straße, eine Sicherheitspatrouille. Die werden uns rausschmeißen, denke ich, stattdessen weist uns der Fahrer bereitwillig den Weg. Maradonas Grundstück ist mit einer hohen Hecke umpflanzt, von der Finca nichts zu sehen. Am Eingangstor steht die Polizei, um Paparazzi wie mich zu vertreiben. Ein Schild mit dem Namen von Maradonas Haus hängt an einem Nebentor: „Melody“. Ich öffne das Autofenster ein wenig und schiebe das Objektiv meiner Kamera durch den schmalen Schlitz. Klickklickklick.

Plötzlich, eine schwarze Limousine, „Das ist er!“, schreit der Taxifahrer und schlägt auf die Hupe. Maradona rollt an uns vorbei und winkt lächelnd durchs offene Fenster. Er ist auf dem Weg zur AFA, um den bestdotierten Vertrag zu unterschreiben, den ein argentinischer Nationaltrainer je bekommen hat.

Abends sagt mir Fernando, vielleicht klappe es direkt vor meinem Abflug, der Flughafen sei ja gleich um die Ecke. Interview, Flughafen! Die Nervosität lässt mich kaum schlafen.

Doch die kurze Begegnung vor seiner Finca, es sollte unsere letzte gewesen sein. Ich muss es per SMS erfahren: „Er hat nein gesagt tausend mal entschuldigung meine hübsche ich hätte mich gefreut wenn du mehr glück gehabt hättest bleib dran ein kuss fernando.“

Mein Flugzeug hebt ab vom Flughafen Ezeiza, ich sehe von oben das AFA-Gelände. Irgendwo dort unten muss er sein, der kleine, dicke Mann, von dem man alles weiß und der doch so schwer zu begreifen ist. Die Sucht nach dem Spiel, sie scheint Maradona nicht loszulassen, irgendwo dort unten spielt er die Partie seines Lebens. Wie immer schaut ihm die ganze Welt dabei zu. Und wie immer hat er alles gesetzt.

Moskau, denke ich. Ob man für Russland ein Visum braucht?

Ein Mythos, hatte „El Flaco“ Menotti gesagt, wird immer erst durch das Ende seiner Geschichte geprägt.

Ich bestelle mir einen Baileys. Auf Eis.

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