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Im Juni 1999 jubeln albanische Kinder im Süden Mitrovicas in Kosovo. Die Nato unterstützte die nationalistische UCK im Kosovokrieg.

© Jean-Philippe KSIAZEK / AFP

20 Jahre Kfor-Mission in Kosovo: "Wir wollen Wut erkennen, bevor sie sich entlädt"

Ein serbischer Mönch fürchtet seine Nachbarn und ein albanischer Versöhner wird Verräter genannt. Ist Kosovo trotzdem auf dem richtigen Weg?

Über den Tannen und Eichen segeln Adler, kurvenreich führt die Straße zum Kloster Visoki Decani. Burgwall, sattgrüner Garten, eine 1335 errichtete serbisch-orthodoxe Kirche – längst Unesco-Weltkulturerbe. Die Idylle täuscht. Mit Maschinenpistolen bewachen Soldaten der internationalen Kosovo-Mission, der Kfor-Truppen, das Kloster. Seit genau 20 Jahren. In diesen Tagen sind die derzeit hier eingesetzten Soldaten aus Italien noch wachsamer als sonst – albanische Nationalisten hatten zu Protesten aufgerufen, Islamisten könnten sich anschließen: Sie wollen, dass die serbischen Christen verschwinden.

„Die Truppen sind überlebensnotwendig“, sagt Vater Petar an einem Frühsommertag. Der Mönch, 47 Jahre, schwarzes Gewand, ergrauter Bart, verlässt das Kloster selten: „Die örtliche Polizei hilft uns nicht. Dabei schützte das Kloster im Krieg auch albanische Familien.“

Zwei Dutzend serbische Mönche, umgeben von Tausenden Albanern. Der Balkan ist seit jeher ein ethno-religiöser Flickenteppich. Überall in Kosovo sind die Straßenschilder zweisprachig – Albanisch und Serbisch. In den meisten Orten ist das Serbische zerkratzt, übermalt. Stünde das Land vor neuen Unruhen, zögen die internationalen Truppen ab?

Bundeswehr soll in Kosovo „schnell und flexibel“ reagieren

Deutschland und 27 weitere Staaten haben für die Kfor-Mission 3500 Soldaten in das 11 000 Quadratkilometer kleine Land entsandt. Ein Land, das sich 2008 für unabhängig erklärte, von 79 UN-Mitgliedern aber nicht als Staat anerkannt wird – sondern als Region Serbiens, allenfalls als Nato-Protektorat.

Italienische Carabinieri sichern eine Brücke im zwischen Serben und Albanern geteilten Mitrovica.
Italienische Carabinieri sichern eine Brücke im zwischen Serben und Albanern geteilten Mitrovica.

© Hannes Heine

Bundesaußenminister Heiko Maas, SPD, wirbt für die Verlängerung des Kfor-Einsatzes der Bundeswehr. Der sei „eine stabilisierende Kraft“, sagte er kürzlich in Berlin. Derzeit sind weniger als 100 Bundeswehrsoldaten im Einsatz, für maximal 800 gilt das Mandat. Maas will diese Zahl auf 400 Soldaten reduzieren – „weil es funktioniert vor Ort“. Aber man wolle sicherstellen, dass die Bundeswehr „schnell und flexibel“ reagieren könne. Klingt nicht so, als glaube die Bundesregierung an schnellen Frieden.

Unter den 1,8 Millionen Albanern in Kosovo leben 150.000 Serben in Enklaven. Dort lesen sie serbische Nachrichten, weht Serbiens Fahne, werden die Schulen aus Belgrad finanziert. Einst war Kosovo eine autonome Provinz in der serbischen Republik, die wiederum zum föderalen Staat Jugoslawien gehörte. Die Region war bei internationalen Filmproduzenten beliebt – im Kloster bei Decani entstand der Karl-May-Film „Der Schut“.

Nach Titos Tod begann Jugoslawiens Zerfall

Mit dem Tod des jugoslawischen Staatschefs Josip Broz Tito aber starb auch die orchestrierte Stabilität. Serbiens Regionalparlament beschloss 1989, Kosovo den Autonomiestatus zu entziehen. Kroatien, Slowenien, Mazedonien und Bosnien erklärten sich für unabhängig. Viele Albaner wollten das auch. Sie gründeten 1994 die Kosovarische Befreiungsarmee UCK, die auch im Westen zunächst als Terrortruppe galt. Ihren Kampf startete die UCK aus Bergen an der albanischen Grenze, in den Wäldern um das Kloster. Die Armee des jugoslawischen Rumpfstaates vertrieb Hunderttausende Albaner. Mit einem wochenlangen Bombardement 1999 verhalfen die Nato-Staaten der UCK schließlich zum Sieg.

Im serbisch-orthodox Kloster Visoki Decani in Kosovo wurden einst Filme gedreht.
Im serbisch-orthodox Kloster Visoki Decani in Kosovo wurden einst Filme gedreht.

© Hannes Heine

Seitdem sollen die internationalen Truppen die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates umzusetzen helfen: ein sicheres Umfeld, eine funktionierende öffentliche Ordnung schaffen. Nur vertrieb die UCK nun Serben und Roma. Im Frühjahr 2004 randalierten 50.000 Albaner in ganz Kosovo: Die Kfor-Truppen wichen Steinhagel, Brandbomben, Schüssen. Während des Pogroms starben acht Serben, sieben Granaten flogen auf das Kloster in Decani. Bis heute fordern die Stadtoberen von den Mönchen, 25 Hektar ihrer Klosterländereien abzugeben, auf denen die Mönche Gemüse anbauen und Schafe züchten. Immerhin, Kosovos höchstes Gericht gab den Mönchen recht.

Stacheldraht, Wachtürme, Sprengstoffkontrollen

Besuch beim Kfor-Oberkommandierenden. Lorenzo D’Addario, 54, Italiener, sitzt im Hauptquartier, auf einem Hügel in Kosovos Hauptstadt Pristina. Das Camp heißt „Film City“, auch hier wurden einst Filme gedreht. Heute: Stacheldraht, Wachtürme, Ausweis- und Sprengstoffkontrollen, Wohncontainer für 600 Soldaten.

Kosovos Bevölkerung sei auf dem richtigen Weg, sagt General D’Addario, aber anfällig für Parolen nationalistischer Hardliner. Das gelte für beide Seiten. „Doch viele Leute sind es leid“, sagt D’Addario. „Sie wollen Jobs, vorankommen.“ Heißt das, die Kfor-Truppen zögen bald ab? Die Mission laufe, sagt D’Addario, bis die UN-Resolution 1244 umgesetzt sei. Wenn nötig, noch Jahre.

Es sei aber schon viel erreicht. „Nach dem Krieg gab es keinen Strom, und noch vor zehn, zwölf Jahren mussten wir überall Kirchen, Dörfer, internationale Einrichtungen schützen“, sagt der Kommandeur. „Anfangs waren es 55.000 Kfor-Soldaten.“ Dauerhaften Schutz brauche heute einzig das Kloster bei Decani. Geschossen hätten Kfor-Truppen seit Jahren nur im Training. Die Lage sei ruhig, wenn auch angespannt.

Kfor-Oberkommandeur Lorenzo D'Addario im Hauptquartier in Pristina.
Kfor-Oberkommandeur Lorenzo D'Addario im Hauptquartier in Pristina.

© Hannes Heine

Kräne, Hochhäuser, ein neues Autobahnkreuz: Pristina wächst, bald dürften es wieder 230 000 Einwohner sein, so wie vor dem Krieg. Die allermeisten Kosovaren sind multilingual. Ältere können oft Serbokroatisch, Jüngere – gerade wenn sie im Ausland lebten – neben Englisch oft Italienisch oder Deutsch. Wer in Berlin das Callcenter einer Fluglinie anruft, spricht womöglich mit einer Studentin in Pristina. In den kleinen Wohnungen der großen Betonblöcke entwickeln junge Kosovaren gefragte Software für ausländische Firmen.

Noch aber ist Kosovo von internationalen Finanziers abhängig, Stiftungen, Sozialverbände und Streitkräfte aus dem Westen geben hier Millionen aus. So speisen Italiener, Deutsche, Amerikaner in den Restaurants, die sich viele Einheimische nicht leisten können: Die Jugendarbeitslosenquote liegt bei 50 Prozent. Noch wandern landesweit mehr Kosovaren ab, als aus dem Exil heimkehren.

„Viele Kosovo-Albaner haben sich in der Opferrolle eingerichtet“, sagt ein Nato-Diplomat, der anonym bleiben möchte. „Sie erwarten Hilfe, tun aber zu wenig, um eine funktionierende Demokratie aufzubauen.“ Selbst albanische Nationalisten bezeichnen die Regierung aus alten UCK-Kämpfern als korrupt.

"Kriminelle, politische und militärische Aktivitäten", schrieb der BND

An der Spitze des Landes stehen Präsident Hashim Thaci und Premier Ramush Haradinaj. Ersterer gilt inzwischen auch den Amerikanern, die ihn mehr als 20 Jahre lang unterstützten, als zu wankelmütig, zu egozentrisch. Thaci plädierte vor einigen Wochen für eine Vereinigung mit Albanien. Ein Großalbanien aber fürchten nicht nur die Serben. Auch in Nordmazedonien wächst die albanische Gemeinde, auch dort gab es 2001 einen albanischen Aufstand.

Der Balkan war immer multiethnisch, überall im Süden des früheren Jugoslawien lebten Albaner.
Der Balkan war immer multiethnisch, überall im Süden des früheren Jugoslawien lebten Albaner.

© Tsp

Der andere Staatsmann, Premier Haradinaj, gilt als der „vernünftigste Mann an der Spitze“, wie es ein US-General ausdrückt. Nur fällt Haradinaj als Ansprechpartner vielleicht bald aus.

Haradinaj stammt aus der Region Decani. Der deutsche Bundesnachrichtendienst schrieb 2005, sein Clan befasse sich dort „mit dem gesamten Spektrum krimineller, politischer und militärischer Aktivitäten, die die Sicherheitsverhältnisse im gesamten Kosovo erheblich beeinflussen“. Haradinaj stand schon vor dem früheren Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien. Er soll angewiesen haben, serbische Gefangene zu töten, um mit ihren Organen handeln zu können. Aus Mangel an Beweisen wurde Haradinaj 2008 und 2012 freigesprochen. Nun wird neu ermittelt. Nach internationalem Druck hatte Kosovos Regierung 2015 einem Sondergericht zur Aufklärung von UCK-Verbrechen zugestimmt. Formal untersteht es kosovarischem Recht, sitzt aber in Den Haag.

Kanzlerin Angela Merkel begrüßte Kosovos Premier Ramush Haradinaj in diesem Juni in Berlin.
Kanzlerin Angela Merkel begrüßte Kosovos Premier Ramush Haradinaj in diesem Juni in Berlin.

© REUTERS/Fabrizio Bensch

In einem Ort in Haradinajs Heimatregion lebt Darko Dimitrijevic, 35, Kosovare, Journalist, Serbe. Vor dem Krieg sollen in der Gemeinde Gorazdevac 2000 Serben gelebt haben, nun sind es circa 300. Unbekannte erschossen hier 2003 zwei serbische Jungen. Trotzdem kehrte Dimitrijevic, der Journalismus in Belgrad studiert hat, in seinen Heimatort zurück. Am Dorfplatz gibt es eine Krankenstation, einen Kiosk und die Redaktion von „Radio Gorazdevac“ – Dimitrijevic und drei Mitstreiter leiten den Sender aus einem Nebenraum im Gemeindehaus.

Albaner und Serben demonstrieren gemeinsam

Dimitrijevic dreht auch Nachrichtenclips, „im Netz werden die im ganzen Land gesehen.“ Seine Radiosendungen hörten auch Albaner, die ja oft noch Serbo-Kroatisch könnten. Er selbst habe albanische und serbische Freunde. „Leider stammen viele Politiker und Beamte aus der Generation des Krieges, des Hasses“, sagt Dimitrijevic und zeigt auf dem Computer einen Clip, den er vor einigen Tagen aufgenommen hat. Zu sehen sind Albaner und Serben, die gemeinsam dagegen protestieren, dass Chemieabfälle in ihrer Gegend lagern.

Vielversprechend? Noch eine Ausnahme. Im Kfor-Camp in Pristina fährt Kommandeur D’Addario mit dem Finger auf einer Landkarte nach oben: Nördlich von Mitrovica sind die Serben in der Mehrheit. Die Regierungen in Belgrad und Pristina haben schon über einen Gebietstausch verhandelt: Serbische Orte in Nord-Kosovo könnten an Serbien, das albanisch-dominierte Presevo-Tal in Süd-Serbien an Kosovo fallen.

Journalist, Kosovare, Serbe: Darko Dimitrijevic.
Journalist, Kosovare, Serbe: Darko Dimitrijevic.

© Hannes Heine

In Mitrovica trennt der Fluss Ibar die Völker. Am Nordufer wohnen Serben, wird meist mit serbischem Dinar bezahlt, sind die Wände mit serbischen Heldenfiguren bemalt und wehen serbische Fahnen. Am Südufer leben Albaner, wird mit Euro gezahlt, stehen Mahnmale für UCK-Gefallene und weht Albaniens rote Flagge. Kosovos blaue Nationalfahne mit den Umrissen des Landes und sechs Sternen ist selten zu sehen, Albaniens Flagge mit dem Doppeladler überall.

"Wir wollen die Wut erkennen, bevor sie sich entlädt"

Mitrovicas zentrale Ibar-Brücke ist mit Betonblöcken für Autos gesperrt. Italienische Carabinieri halten Wache. Beunruhigt hatte die Kfor-Offiziere das Attentat auf Oliver Ivanovic. Im Januar 2018 erschossen Unbekannte den kosovo-serbischen Politiker in Nord-Mitrovica. Und erst diesen Mai eskalierte dort ein Polizeieinsatz. Als Kosovos Sondereinheiten 19 Männer wegen Korruptionsverdachts festnahmen, errichteten Serben eilig Straßensperren. In Belgrad versetzte Präsident Aleksandar Vucic die Armee in Alarmbereitschaft und nannte die Razzia den Versuch, die Kosovo-Serben einzuschüchtern. Dabei waren neben elf Serben auch vier Bosniaken und vier Albaner verhaftet worden. Schmuggelnetzwerke, sagt ein Sicherheitsmann aus Westeuropa, seien wieder multiethnisch.

Bei einer Razzia der Polizei im von Serben bewohnten Nord-Kosovo gab es Auseinandersetzungen.
Bei einer Razzia der Polizei im von Serben bewohnten Nord-Kosovo gab es Auseinandersetzungen.

© Visar Kryeziu/AP/dpa

An diesem Frühsommertag schlendern fünf Schweizer Kfor-Soldaten durch Nord-Mitrovica, sie sind Teil eines „Liaison- and Monitoring-Teams“. Diese kleinen Einheiten sollen im ganzen Land die Stimmung erspüren: Café-Besuch, Schwatz mit Imam oder Priester, Plausch mit Dorfvorstehern. „Wir wollen erfahren, ob es Wut gibt“, hat Kfor-General D’Addario noch gesagt. „Bevor sie sich entlädt.“ Die Schweizer tragen legere Uniformen, die Waffen verdeckt darunter. In den Straßen werden sie gegrüßt, in den serbischen Cafés fast freundschaftlich empfangen. Im Kosovokrieg bombte die Schweiz nicht mit.

"Wir wollen alle Verbrechen gleichermaßen dokumentieren"

Mit dem Krieg beschäftigt sich Bekim Blakaj, 48, professionell. Blakaj ist ein albanischer Versöhner: Er dokumentiert die Verbrechen aller Seiten während des Zerfalls Jugoslawiens und leitet die Dependance des Humanitarian Law Centre in Kosovo. Gegründet wurde das Zentrum 1992 von einer Serbin in Belgrad. Blakaj führt durch das Untergeschoss einer Stadtbibliothek in Pristina. Die Ausstellung dort zeigt Bilder von Kindern, die im Krieg starben. Hinter Glas sind deren Pullover, Spielzeuge, Schulhefte zu sehen. Insgesamt seien 1024 Kinder zwischen 1998 und 2000 getötet worden, 109 werden seitdem vermisst. Ihre Namen sind aufgelistet; die meisten albanisch.

Bekim Blakaj leitet das Humanitarian Law Centre in Kosovo.
Bekim Blakaj leitet das Humanitarian Law Centre in Kosovo.

© Hannes Heine

„Uns haben aber auch serbische Eltern besucht, deren Kinder getötet wurden“, sagt Blakaj. „Wir wollen, dass alle Verbrechen gleichermaßen dokumentiert und aufgeklärt werden.“ Viele Albaner halten diejenigen für Verräter, die auch die Taten einstiger UCK-Männer anprangern. Er gehe dennoch davon aus, sagt Blakaj, dass es zwischen Belgrad und Pristina bald Fortschritte gebe – mit oder ohne Gebietsaustausch. Ein Friedensabkommen samt gegenseitiger Anerkennung ist Voraussetzung dafür, dass Serbien und Kosovo in die EU aufgenommen werden. Das wollen beide Seiten.

Ob Kfor-Offiziere, Diplomaten, albanische oder serbische Kosovaren, die allermeisten sagen deutlich: Sollten die Richter in Den Haag tatsächlich anordnen, kosovarische Regierungsmitglieder wegen möglicher Kriegsverbrechen festzunehmen, gäbe es zwar Proteste auf den Straßen. Doch Kosovos Polizisten würden den Haftbefehl pflichtbewusst ausführen. Vielleicht ist Kosovo tatsächlich auf dem richtigen Weg.

Die Reise durch Kosovo wurde von der Nato organisiert.

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