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Journalisten in Russland: Stolz darauf, „ausländischer Agent“ zu sein
Russische Journalisten haben keine Rechte, Oppositionelle landen im Gefängnis. Nikita Sologub erklärt, wie sie dennoch ihre Arbeit fortsetzen.
Stand:
Das Medienunternehmen, bei dem ich seit seiner Gründung vor zehn Jahren arbeite, Mediazona, wurde als Reaktion auf die Repressionen im russischen Strafvollzugssystem gegründet. Damals wurde kaum darüber gesprochen, wie Sicherheitsdienste und Polizeibeamte Menschen folterten, um ihnen Geständnisse abzuringen, und wie Gerichte sie ins Gefängnis schickten.
Die Mitglieder von Pussy Riot, die die Gesetzlosigkeit der Gefängnisse aus erster Hand erfahren hatten, beschlossen, die Geschehnisse aufzudecken, und luden uns – unabhängige Journalisten – dazu ein, diese Geschichten zu erzählen.
Eine Zeit lang galten unsere Medien als Nischenprodukte. Die meisten normalen Bürger hatten noch nie mit Gefängnissen zu tun gehabt – warum sollten sie sich also dafür interessieren, was dort passiert? Doch die Repression in Russland eskalierte schnell. Die Behörden begannen, aktiv nach „Gedankenverbrechen“ in den Beiträgen der Bürger in den sozialen Medien zu suchen.
Ganze gesellschaftliche Gruppen wurden zu „extremistischen Bewegungen“ erklärt – von den Zeugen Jehovas bis zu den Teilnehmern von Kundgebungen der Opposition, von LGBTQ+-Personen bis zu Schulkindern, die Wikipedia-Artikel über den Amoklauf von Columbine 1999 lesen. Es wurde klar, dass jeder vor Gericht landen konnte. Das Interesse der Gesellschaft an der Justiz und der Strafverfolgung wuchs. Im Jahr 2017 spielte sich jedes wichtige öffentliche Ereignis auch in Gerichtssälen und Ermittlungsbüros ab.
Im Februar 2021 wurde unser Chefredakteur für 25 Tage inhaftiert – sein Vergehen war das Retweeten eines Memes. Damals schien dies eine unerhörte Verletzung der Rechte eines Journalisten zu sein – wir starteten eine Medienkampagne für seine Freilassung. Im Nachhinein betrachtet, erscheint das fast lächerlich. Denn heute haben russische Journalisten überhaupt keine Rechte.
Zwei Wochen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine haben die Behörden neue strafrechtliche Vorwürfe erhoben: die Verbreitung so genannter „Fake News“ über den Krieg und die so genannte „Diskreditierung“ der Armee. In der Praxis machten diese Gesetze eine ehrliche Kriegsberichterstattung unmöglich. Nur Propagandamagazine, die offizielle Pressemitteilungen abschreiben, können legal arbeiten.
Ein Pseudonym könnte die Strafverfolgung verzögern, aber nicht lange. So beschloss ich vom ersten Tag des Krieges an, nie wieder nach Russland zurückzukehren und unter meinem richtigen Namen weiterzuschreiben.
Gesetz über „ausländische Agenten“
Ein weiteres mächtiges Unterdrückungsinstrument ist das Gesetz über „ausländische Agenten“: Jede Person, die als solcher bezeichnet wird, ist verpflichtet, sich in jeder Veröffentlichung zu kennzeichnen. Mit dem Ausbruch des Krieges wurde dieses Gesetz als Waffe gegen Journalisten eingesetzt – die Liste der „ausländischen Agenten“ wird wöchentlich erweitert.
Hunderte von Journalisten tragen diese Kennzeichnung mit Stolz, und viele wurden strafrechtlich belangt, weil sie sich weigerten, sich zu kennzeichnen. Natürlich haben die Menschen Angst, mit „ausländischen Agenten“ zu sprechen.
Doch die Behörden gingen noch weiter: Sie begannen, Medienorganisationen als „unerwünscht“ zu brandmarken. Unter diesem Status ist jede Interaktion mit solchen Medien - selbst wenn es sich um eine Straßenumfrage handelt – eine Straftat. Um ihre Arbeit fortzusetzen, haben die Medien begonnen, Zwischenveröffentlichungen zu erstellen, die keinen offiziellen Status haben, um ihre Quellen vor Strafverfolgung zu schützen.
Viele Journalisten, die entweder den Mut hatten, in Russland zu bleiben, oder denen die Mittel zur Ausreise fehlten, sind im Gefängnis gelandet. Einige sitzen hinter Gittern, weil sie Fotos von den Zerstörungen in Mariupol gepostet haben, andere einfach nur wegen mutmaßlicher Verbindungen zu dem ermordeten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny und erwarten Haftstrafen von bis zu sechs Jahren.
Trotzdem weigern sich einige von ihnen, Russland zu verlassen, weil sie der Meinung sind, dass sie nicht aus ihrer Heimat vertrieben werden sollten, nur weil sie ihre Arbeit machen.
Wir sind gezwungen, kreative Lösungen zu finden. Wir machen weiter!
Nikita Sologub, Exiljournalist
Das erzwungene Exil und die von den Behörden aufgestellten juristischen Fallen haben unsere Arbeit völlig verändert. Aber wir machen weiter. Diese Bedingungen zwingen uns dazu, kreative Lösungen zu finden. Seit Beginn des Krieges haben wir festgestellt, dass Open-Source-Daten Erstaunliches zu Tage fördern können.
Zu Beginn des Krieges griffen wir beispielsweise auf die Daten eines Kurierdienstes zu, um herauszufinden, wie viele Tonnen an geplünderten Gütern russische Soldaten aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Hause transportierten. Später untersuchten wir sogar Museumskataloge und nutzten sie, um die Biografien von im Kampf gefallenen russischen Soldaten zu ermitteln, da die Behörden die Museen zwangen, Ausstellungen zu Ehren dieser so genannten „Kriegshelden“ zu gestalten.
Wir warten nicht darauf, dass die russischen Behörden die wahre Zahl der Kriegsopfer bekannt geben. Stattdessen zählen wir manuell jeden gemeldeten Todesfall und durchkämmen Tausende von Social-Media-Seiten aus den kleinsten und abgelegensten Dörfern Russlands. Wir können nicht von der russischen Seite der Front berichten, aber wir finden Deserteure, die geflohen sind, und dokumentieren, was dort wirklich passiert.
Russische Journalisten haben keinerlei Rechte – trotzdem setzen wir unsere Arbeit fort. Wir könnten dies nicht ohne unsere Leser tun, die uns durch Spenden unterstützen – ein Modell mit freiwilligen Beiträgen, das wir für ideal halten.
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