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Daten-Plattformen werden in der Pflege immer wichtiger.

© GettyImages/Ryzhi

KI-Experte im Interview : „Wir brauchen in der Pflege größere und bessere Datensätze“

Wirtschaftsinformatiker Daniel Fürstenau über Fragen digitaler Patientenversorgung. Ineffizienzen im Gesundheitssystem und die Akademisierung des Pflegeberufs.

Von Heike Gläser

Stand:

Herr Fürstenau, worauf konzentrieren Sie sich in Ihren Forschungsarbeiten?
Es geht am Institut für Medizinische Informatik an der Charité um die digitale Patientenversorgung insgesamt. In unserer Arbeitsgruppe arbeiten wir zurzeit im Bereich „KI in der Pflege und Datenplattformen“. Dabei verbinde ich meine Forschung im Bereich Wirtschaftsinformatik an der FU mit den Fragen digitaler Patientenversorgung.

Hat das auch etwas mit Robotik zu tun?
Robotik machen wir nur am Rande. In unserem Forschungsarbeiten beschäftigen wir uns mit Machine Learning (ML), indem wir analytische Modelle entwickeln und einsetzen, um Outcomes vorherzusagen.

Was wäre ein Beispiel für sogenannte Outcomes?
In unserem aktuellen Projekt geht es ganz konkret um das Thema Sturz. Wir fragen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Person stürzt oder nicht. Dazu werten wir elektronische Patientenakten aus und entwickeln daraus Klassifikationsmodelle. Wir trainieren auf circa einer Million Patientenakten. Das ist komplex, es gibt zwar bestimmte Faktoren, etwa ob eine Person schon einmal gestürzt ist oder wie das Gangbild aussieht. Zudem werden pflegerische Standards zusammengefasst sowie weitere Faktoren berücksichtigt wie etwa der Einfluss einer bestimmten Medikation.

Wie können diese Erkenntnisse dann in der Pflege Anwendung finden?
Diese regelbasierten Algorithmen findet man heute schon in der Pflege, um Risikofaktoren zu identifizieren und einzuordnen, basierend auf bestimmten Merkmalen und Regeln, etwa hohes Alter in Verbindung mit Sturzhistorie und bestimmten Medikamenten. So kann man Risikogruppen bestimmen.

Wofür macht das Sinn?
Zum Beispiel messen Pflegekräfte auch heute schon im Krankenhaus das Sturzrisiko von Patienten durch Fragebögen und überwachen sie unterschiedlich intensiv, je nach Ergebnis. Diese Methode verhindert Stürze aber bisher nicht so, wie wir es uns wünschen würden. Zukünftig können KI-gestützte Systeme solche Entscheidungen verbessern, ob eine sturzgefährdete Person zusätzliche Unterstützung beim nächtlichen Aufstehen benötigt.

Wie zuverlässig sind solche Vorhersagen?
Es geht dabei insbesondere darum, tatsächlich sturzgefährdete Personen zu erkennen. Gleichzeitig will man aber auch nicht Personen ohne Sturzrisiko fälschlich als gefährdet einstufen, ihnen damit Angst machen und unnötig überwachen. Aktuell ist oft noch unklar, wie gut diese Modelle in der Praxis abschneiden. Um sie weiterzuentwickeln und ihre Genauigkeit zu verbessern, braucht es hochwertige, möglichst vielfältige Daten. Nur so können die Vorhersagen künftig präziser und verlässlicher werden.

Das klingt alles sehr aufwendig …
Ja, das ist in der Pflege ein langer Weg von der Entwicklung bis zur Einführung in die tägliche Praxis. Die Datenarbeit ist sehr langwierig, man analysiert retrospektiv, also Daten aus der Vergangenheit, um dann prospektiv Voraussagen zu treffen.

Dann müssen solche Anwendungen aus der Forschung aber auch noch in die Praxis und damit auch in das IT-System zum Beispiel eines Pflegeheims überführt werden. Wir arbeiten auch mit Start-ups zusammen, zum Beispiel mit Lindera, ein Start-up aus Berlin, das eine Ganganalyse-App entwickelt hat zur Sturzprävention für die professionelle Pflege.

Ärzteschaft, Pflegende, Reha-Einrichtungen: Alle könnten besser, papierlos und in digitaler Form zusammenarbeiten.

Daniel Fürstenau, Wirtschaftsinformatiker

Welchen Einfluss können KI-Anwendungen auf unser Gesundheitssystem haben?
Wir haben viele Ineffizienzen im Gesundheitssystem. Durch die starke Sektorentrennung, etwa zwischen stationär und ambulant, durch die Reibungsverluste zwischen den Berufsgruppen, zwischen Ärzteschaft, Pflegenden und Reha-Einrichtungen. Alle könnten besser, papierlos und in digitaler Form zusammenarbeiten, was Verzögerungen beseitigen würde und wieder mehr Zeit für die Patienten ermöglichen kann. Es ist auch wichtig, weil wir sonst eine weitere Kostenexplosion erleben werden.

Welche Themen sollte man in der Pflege zuerst anpacken?
Da gibt es verschiedene Bereiche. Ein wichtiger Bereich ist die Dokumentation, um das Pflegepersonal zu entlasten. Es gibt Untersuchungen, dass die Mitarbeiter teilweise bis zu 40 Prozent ihrer Zeit für die Dokumentation aufwenden, das ist ein signifikanter Teil der Arbeitszeit. Und diese Last muss abgebaut werden – und da kann KI helfen.

Gibt es da nicht schon erste Lösungen?
Ja, es gibt zum Beispiel Voize, ein Unternehmen, das Dokumentation per Spracherkennung anbietet. Das bietet die Möglichkeit, schneller und näher am Patientenbett zu dokumentieren. Denn wenn die Dokumentation erst später erfolgt, dann können Erinnerungslücken oder Verzerrungen entstehen.

Viele KI-Anwendungen sind noch nicht am Markt zugelassen, warum dauert das so lange?
Es kann auch relativ schnell gehen, wenn man beispielsweise an die Corona-App denkt, die das Robert Koch Institut entwickelt hat. Da kann eine solche App innerhalb von sechs Monaten eine Marktdurchdringung erreichen, wenn man es wirklich will. Dieses Denken in Zeiträumen von Jahrzehnten im Gesundheitswesen, wie es jetzt bei der elektronischen Patientenakte (ePA) war, sollte ja nicht die Regel sein.

Es ist gut, dass auch die Pflegeeinrichtungen an die elektronische Patientenakte angebunden sind.

Daniel Fürstenau, Wirtschaftsinformatiker

Lag das nicht auch an den hohen Hürden beim Datenschutz?
Natürlich muss das gut gemacht sein, wir müssen alles dafür tun, dass die ePA sicher und gut geschützt ist. Und da hat der Chaos Computer Club wichtige Arbeit gemacht, Probleme aufzuzeigen. Aber das heißt nicht, dass wir deswegen grundsätzlich auf die ePA verzichten können. Die elektronische Patientenakte sollte jetzt unter enger Berücksichtigung von Sicherheit eingeführt und akzeptiert werden als wichtiges Rückgrat der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Wir brauchen die ePA auch für den Austausch zwischen den Schnittstellen.

Das heißt konkret?
Angenommen wir haben eine ältere Person, die im Krankenhaus behandelt wird, dann aber in die Palliativpflege muss oder in eine Reha-Einrichtung: Das sind alles Schnittstellen, die gemanagt werden müssen, um Doppeluntersuchungen zu vermeiden und damit keine wichtigen Informationen verloren gehen. Deswegen ist es gut, dass auch die Pflegeeinrichtungen an die ePA angebunden werden.

In welchen Bereichen wird KI noch relevant werden?
Sogenannte Matchingsysteme sind auch wichtig. Darunter versteht man so etwas wie Personalplanungs- und Ressourcenalgorithmen, also Dienstplan-Apps. Sie können dabei helfen, organisatorische und administrative Probleme zu lösen: von der Anzahl freier Betten in einem Pflegeheim bis zu einzelnen Schichten einer Pflegekraft.

Wie lässt sich die KI-Entwicklung in der Pflege weiter nach vorne bringen?
Wir brauchen größere und bessere Datensätze, die Ansprüchen an Sicherheit und Patienten-Autonomie gerecht werden. Gleichzeitig erleben wir, dass wir im internationalen Vergleich nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung sein können, wenn es uns in Deutschland nicht gelingt, die Daten etwa aus Pflegeheimen so zu nutzen, dass sie die Versorgung in Zukunft verbessern.

Patientendaten sind sensitive Daten, wie geht man damit verantwortungsvoll um?
Man muss sehr genau schauen, in welcher Form man die Daten für wen und wie verfügbar macht. Das braucht Zeit. Man kann nicht einfach auf den Knopf drücken und dann leitet man alle Daten aus und verlinkt diese. Es gibt zum Beispiel aktuelle Forschungsarbeiten unserer Arbeitsgruppe, die sich mit der Anonymisierung, beschäftigen und mit der Frage, wie man eine Deidentifikation möglichst schwer macht. Gleichzeitig ist es wichtig, einfache technische Möglichkeiten zu schaffen, um Patienten zu ermöglichen über die Nutzung ihrer Daten für Forschung zu entscheiden.

Wir arbeiten mit Pflegewissenschaftlern und Pflegekräften zusammen, um nicht an der Praxis „vorbeizuforschen“.

Daniel Fürstenau, Wirtschaftsinformatiker

Welche Hürden gibt es bei der Datenerfassung?
Es gibt in Deutschland immer noch sehr viele institutionelle Hürden, um Daten verfügbar zu machen. Viele sagen, es sei zu aufwendig, man sollte die Daten lieber nicht teilen. Das sind eher defensive Strategien. Aber im besten Falle wird es am Ende möglich sein, dass Pflegeheime und Einrichtungen Daten teilen können, damit man sie auch sinnvoll für Forschungsarbeiten nutzbar machen kann.

Wie wird sich die Ausbildung der Pflegekräfte zukünftig verändern?
Es ist wichtig, diese Entwicklungen bereits in der Ausbildung zu berücksichtigen. Wir arbeiten in unserem Forschungsprojekt eng mit Pflegewissenschaftlern und Pflegekräften zusammen, um nicht an der Praxis „vorbeizuforschen“.

Die Akademisierung der Pflege ist eine Voraussetzung für die Entwicklung von KI in der Pflege. Es gibt mittlerweile sehr gute Lehrstühle in der Pflegewissenschaften, die auch international sichtbar und schlagkräftig sind. Jetzt kommt es darauf an, dass sich diese Forschung vernetzt, damit eine gute Zusammenarbeit – basierend auf Datensätzen – entsteht.

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