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Frans Hals, Lachender Junge, 1630, Den Haag, Mauritshuis.

© Mauritshuis, Den Haag

„Ein Blubberbad an Impulsen und Ideen“: Das waren die Niederlande im 17. Jahrhundert

Die Berliner Gemäldegalerie präsentiert Meisterwerke von Frans Hals. Sie entstanden in einer Epoche, die einzigartige war in der Kunst- und Wirtschaftsgeschichte

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Noch Anfang der 1990er Jahre warb das Rijksmuseum in Amsterdam mit einem riesigen Fassadenplakat für die Ausstellung „Dageraad der Gouden Eeuw“ („Morgendämmerung des Goldenen Zeitalters“). Zu sehen war das berühmte Gemälde von Frans Hals aus der Sammlung der Berliner Gemäldegalerie, das die zweijährige Catharina Hooft mit ihrer Amme zeigt, die in Größe und Position gleichberechtigt dargestellt ist. Den Titel der Ausstellung allerdings darf man als geschichtlich überholt bezeichnen. Den Begriff „Goldenes Zeitalter der Niederlande“ vermeiden Museumsexperten heute eher.

Denn das 17. Jahrhundert war eben nur für eine bestimmte gesellschaftliche Schicht „golden“, für andere Menschen, vor allem in den Kolonien, bedeutete es Leid und Ausbeutung. „Heute sind wir stärker sensibilisiert für die Einseitigkeit solcher Begriffe“, erklärt Katja Kleinert, Spezialistin für die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts und Kuratorin der aktuellen Frans-Hals-Ausstellung „Meister des Augenblicks“ in der Gemäldegalerie.

Unglaubliche Anziehungskraft

Trotzdem: Auch ohne angemessene Bezeichnung sind die Jahre von, grob gesagt, 1600 bis 1700 in den Niederlanden eine einmalige Zeit, wirtschafts- wie religions- und kulturgeschichtlich. Der nördliche Landesteil sagt sich 1581 vom übermächtigen Spanien los und entwickelt im Laufe der nächsten Jahrzehnte eine unglaubliche Anziehungskraft auf Glaubensflüchtlinge. Gleichzeitig werden diese sieben Provinzen, die lange vor den englischen, amerikanischen und französischen Revolutionen eine Republik bilden, zu einer weltumspannenden See- und Handelsmacht, was fassungslosen Reichtum ins Land spült.

Während der Nachbar Deutschland im Dreißigjährigen Krieg in heillosem Elend versinkt und auf Jahrhunderte zersplittert, stehen in diesem kleinen Land am Rand der Nordsee Wissenschaft und Kunst in größter Blüte. Kunst, die ihren Ausdruck nicht in Musik oder Literatur findet, sondern in Malerei.

Junge Frau („La bohémienne“) von Frans Hals, um 1632.

© Musée du Louvre/ Jean-Gilles Berizzi

Rund 70.000 Bilder werden angeblich in dieser Epoche produziert – pro Jahr! Insgesamt sprechen wir also über mehrere Millionen Gemälde. Die haben selbstverständlich nicht alle die Qualität eines Frans Hals, befriedigen aber trotzdem ein Bedürfnis, das offenbar weit verbreitet gewesen sein muss. „Wir kennen Reiseberichte, denen zufolge fast jeder Bürger damals ein Gemälde an der Wand hatte, oft auch mehrere zugleich“, so Kleinert.

Drei Maler stechen hervor, jeder von ihnen ist stark mit einer Stadt verbunden: Rembrandt in Amsterdam, Jan Vermeer in Delft, Frans Hals in Haarlem. Sie verlassen ihren Wohn- und Arbeitsort fast nie – und entwickeln trotzdem, jeder auf seine Weise, unglaubliche innovative Kraft.

Anders als etwa in Spanien fällt die Kirche als Auftraggeber aus. Der Calvinismus gestattet keine bildlichen Darstellungen in Gotteshäusern. Natürlich herrscht trotzdem eine private Frömmigkeit, und Maler wie Rembrandt spezialisieren sich auf Historiendarstellungen, bei denen vor allem Szenen aus dem Alten Testament beliebt sind.

„Grund dafür ist“, erklärt Kleinert, „dass sich die Niederländer mit den biblischen Israeliten identifizieren, da sie selbst als kleines Land gegen die Gigamacht Spanien kämpfen.“ Außerdem kommen durch den Überseehandel zahlreiche exotische Gegenstände in Umlauf, die sich gut in alttestamentarische Historienbilder integrieren lassen.

Szene aus der Berliner Gemäldegalerie, die sich in den 1960er Jahren noch in Dahlem befand: Ein Kind betrachtet das Gemälde „Catharina Hooft und ihre Amme“ von Frans Hals.

© Gerald Schulz

Vermeer, der jung stirbt und nur ein schmales Œuvre hinterlässt, schafft in der Genremalerei eindringliche, intime, alltägliche Szenen, dominiert von Stille und Einkehr – und von Tageslicht, das schräg vom Fenster kommend die Wände erhellt, meisterhaft dargestellt.

Frans Hals wiederum, als frühester der drei noch im 16. Jahrhundert geboren, konzentriert sich auf Einzel- und Gruppenporträts, aber auch auf Genreszenen. In denen malt er Menschen am Rand der Gesellschaft, Außenseiter, Fischerjungen, Schausteller, Menschen mit Beeinträchtigung wie die berühmte Malle Babbe – immer lebensnah, immer einen ganz bestimmten Ausdruck im Antlitz der abgebildeten Person einfangend, einen einmaligen, vergänglichen Moment.

„Ich werde dann gefragt, ob er sozial engagiert war und sich für diese Gruppen eingesetzt hat. Aber das bedeutet, mit heutigen Begriffen die damalige Zeit verstehen zu wollen“, sagt Kuratorin Kleinert. „Hals hat diese Bilder nicht gemalt, weil er sozial engagiert war. Er war interessiert an Menschen, an Individuen mit ihren spezifischen Charaktereigenschaften und Eigenheiten.“

Rembrandt, Vermeer und Hals vereint, dass sie herausragendes Talent besaßen und jeder seinen ganz eigenen Weg im Streben nach bestmöglichen Ergebnissen ging.

Katja Kleinert, Kuratorin der Ausstellung in der Gemäldegalerie

Nach einer Phase der Geringschätzung erkennen moderne Maler des 19. Jahrhunderts wie die französischen Impressionisten in Hals aufgrund seiner freien Malweise einen ihre Vorläufer. Auch, weil er zu den ersten gehört, der seine eigene, subjektive Wahrnehmung direkt in die Darstellung einfließen lässt. Rembrandt hingegen, der im Alter fast ebenso modern malt, muss zu keinem Zeitpunkt „wiederentdeckt“ werden, seine Bedeutung stand nie außer Frage. „Alle drei vereint“, so Kleinert, „dass sie herausragendes Talent besaßen und jeder seinen ganz eigenen Weg im Streben nach bestmöglichen Ergebnissen ging.“

Natürlich sind Rembrandt, Vermeer und Hals nur die Gipfelpunkte. Im 17. Jahrhundert waren in den Niederlanden noch sehr viel mehr Maler tätig, etwa der Stilleben-Spezialist Pieter Claesz, auch Hals‘ Schüler wurden bedeutende Künstler. „Es muss eine unglaublich anregende Zeit gewesen sein, eine Art Blubberbad von Einflüssen, Impulsen und Ideen“, ist Kleinert überzeugt. Anders als andere große Kunstnationen entstehen die Niederlande in dieser Zeit überhaupt erst – sie bilden ihre eigene Identität aus.

Gegen Ende des Jahrhunderts setzt sich dann England bzw. Großbritannien als See- und Handelsmacht durch. Doch der Wohlstand, das Selbstbewusstsein und die Traditionen, die damals entstanden, prägen die Niederlande bist heute und sind dort auf Schritt und Tritt spürbar.

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