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Gesundheit: Humboldt-Universität: Mit Virchow den Nerv der Zeit treffen

Am 31. Oktober wird der Akademische Senat der Humboldt-Universität über das künftige Leitbild der Hochschule diskutieren.

Am 31. Oktober wird der Akademische Senat der Humboldt-Universität über das künftige Leitbild der Hochschule diskutieren. Seit Jahren feilt eine Arbeitsgruppe unter Leitung des Philosophieprofessors Volker Gerhardt an diesem Leitbild. Es baut auf dem Grundgedanken auf, dass eine Universität mit einer so großen Tradition wie die Humboldt-Uni nicht nur eine Hochschulbildung und Forschung im üblichen Rahmen betreiben sollte. Nötig sei auch die Idee von einer Universität - ein Ort von Lehre und Forschung, der eine herausragende Rolle in der Mitte Berlins spielen will und sich zu notwendigen Reformen bekennt. Im folgenden Beitrag stellt Volker Gerhardt die Traditionen heraus, die für die Humboldt-Universität bei der Suche nach ihrem Leitbild maßgebend sind. (D.Red.)

Die größte Stunde der alten Berliner Universität war die ihrer Gründung. Nur wusste es damals, im Oktober 1810, noch niemand. Die Bedeutung der durch Kant, Fichte und Schleiermacher vorbereiteten und von Wilhelm von Humboldt umgesetzten Innovation trat erst mit den Jahren hervor. Es mussten viele Faktoren zusammenkommen, ehe die Reformidee des Gründers zur Geltung kam: Da war die "nationale Erhebung" gegen Napoleon gleich in den ersten Jahren, die kluge Personalpolitik Schleiermachers, die Berufung Hegels, die Verbindung mit der Charité, die Kooperation mit der Akademie oder die das Selbstbewusstsein der Institution stärkende liberale Opposition gegenüber dem konservativ-romantischen Hof, ein Widerstand, der 1848 eskalierte und erst nach 1871 in der Begeisterung für das Reich verloren ging.

Medizin im Aufwind

Gewiss hat die Universität vom politischen Ehrgeiz Preußens profitiert. Die Prosperität der schnell wachsenden Industriemetropole Berlin erlaubte einen großzügigen Ausbau der medizinischen Forschung. Die wiederum gab den sich erstmals selbstständig machenden Naturwissenschaften Impulse, die bis in die Nobel-Leistungen der Physiker und Chemiker des 20. Jahrhunderts fortwirkten. Die aus der Forschungspraxis erwachsenen Institute, fügten sich bestens in die von Humboldt vorgegebene Struktur.

Erst dadurch wurde aus der Gründung von 1810 die mit Recht gerühmte moderne Institution. Sie ist so eng mit Humboldts Namen verbunden, dass man nur zu leicht vergisst, dass sie ihren Namen erst seit 1949 trägt. Allein mit dem Akt der Namensgebung, die neben Wilhelm auch Alexander von Humboldt ehrt und somit die Universität gleichermaßen verpflichtet, hat sich die Hochschuladministration der DDR um die Universität verdient gemacht.

Nach 1933 hat man der Universität Humboldts wiederholt den Vorwurf gemacht, sie habe durch ihre verbindliche Konzentration auf Forschung und Lehre die Entpolitisierung der Wissenschaft begünstigt. Wer in "Einsamkeit und Freiheit" forsche, werde im öffentlichen Meinungsstreit übergangen und habe letztlich der politischen Macht nichts entgegenzusetzen.

Das Versagen der Wissenschaft vor der totalitären Gewalt ist offenkundig. Es ist auch gar nicht zu leugnen, dass alle möglichen politischen Optionen gegen das Recht, gegen Republik und Demokratie unter Hinweis auf die wissenschaftliche Objektivität begründet wurden. Mit der Berufung auf das Ethos der Wissenschaft wurde vor allem aber der Mangel an Zivilcourage überdeckt.

Das hat es tausendfach gegeben, auch an der Berliner Universität, und es gehört zu den vorrangigen Aufgaben der Universitätsgeschichte, dieses dunkle Kapitel noch vor dem Jubiläum im Jahre 2010 aufzuarbeiten. Doch einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Humboldts Gründungsimpuls und dem Versagen vor den humanen Zielen der Politik dürfte man dabei schwerlich finden. Denn Humboldts eigene politische Wirksamkeit bietet dafür ebenso wenig Anhaltspunkte wie die Haltung der noch unter seinem Einfluss berufenen Männer.

Wer jedoch meint, die Reform habe erst allmählich zur Entpolitisierung geführt, der kann sich durch den mehr als vierzig Jahre durchgehaltenen Widerstand der liberalen Professoren gegen den preußischen Absolutismus und schließlich gegen dessen letzten großen Anwalt, den "eisernen Kanzler" Bismarck, eines bessern belehren lassen. Einer der bedeutendsten Gelehrten in der Reihe mutiger Bürger war Rudolf Virchow. Als angesehener Pathologe der Charité hat er soziale Ursachen der Krankheit aufgedeckt und war durch das Studium der immer wieder auch in Berlin wütenden Cholera zum weltweit führenden Epidemiologen geworden. In der Überzeugung, dass der Arzt nichts so nötig brauchte, wie seine Augen und Hände (weil er die konkrete Lage der Kranken und ihrer Krankheit erfassen müsse), forderte er schon Mitte der vierziger Jahre eine soziale Reform der Medizin. Der Arzt, so seine Maxime, müsse der "natürliche Anwalt der Armen" sein.

Vom Staat in der damaligen Verfassung erwartet er keine Hilfe, hier schien ihm "alles hohl und morsch bis obenhin". Folglich stand er auf der Seite der Revolutionäre von 1848. Der Amtsenthebung ging er 1849 aus dem Weg, indem er einen Ruf nach Würzburg annahm. Die Rückberufung nach Berlin im Jahre 1856 war ein wissenschaftlicher und politischer Triumph: Nach seiner Entdeckung der tragenden Funktion der Zelle, entwarf er das Programm der Zellularpathologie und erhielt für seine Forschungen ein großzügig eingerichtetes Institut, dem er später das Pathologische Museum anfügte.

Als Leiter dieser Einrichtung und als Herausgeber des von ihm gegründeten "Archivs für pathologische Anatomie und Physiologie" wurde er zu einem der angesehensten Mediziner Europas, der die wissenschaftliche Welt nicht nur mit immer neuen Entdeckungen, sondern auch mit einer Fülle archäologischer, anthropologischer, ethnologischer und geografischer Beobachtungen überraschte. Er war eine Autorität und propagierte das "Denken ohne Autorität".

Zum politischen Triumph Virchows gehörte seine Wahl ins Preußische Abgeordnetenhau im Mai 1862. Dort wurde er zum prominentesten Gegenspieler Bismarcks, der seit September 1862 als Preußischer Ministerpräsident gegen das Parlament regierte. Virchow blieb im Verfassungskonflikt um den Haushalt so entschieden auf der Seite des Rechts, dass Bismarck sich zu einer Duellforderung verstieg, die Virchow souverän ins Leere laufen ließ. Er, der Mediziner, der die Krankheitserreger sichtbar machen konnte, wollte die Waffen bestimmen, mit denen er adäquat kämpfen könne: eine Wurst mit und eine ohne Trichinen.

Empörer

Virchow war der erste, der 1873 den "Kulturkampf" erkannte, benannte und verwarf, er empörte sich über den Antisemitismus des Hofpredigers Stoecker, der damals schon die "Vernichtung" der Juden forderte. Als 1880 gewählter Reichstagsabgeordneter warnte er vor einer eigenen Kolonialpolitik des Deutschen Reiches mit Argumenten, die sich beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges exakt bestätigen sollten.

Doch seit Königgrätz und Sedan war die politische Stimmung für diesen großen Sozialliberalen, der in allem für die Achtung des Individuums stritt, nicht günstig. 1893, als sein Widersacher Bismarck bereits aus dem Amt geschieden war, wurde der "Freisinnige" Rudolf Virchow nicht wieder in den Reichstag gewählt.

Der Friedrich-Wilhelms-Universität war die freiheitliche Politik Virchows nicht geheuer. Zweimal lehnte sie seine Wahl zum Rektor ab. Aber 1892, ein Jahr nach dem international beachteten siebzigsten Geburtstag des Gelehrten, wäre es ein Affront gewesen, ihn erneut zu übergehen. Er wurde gewählt und nutzte das Jahr seiner Amtszeit zur Profilierung der Selbstständigkeit der Universität, die unter Wilhelm II. unter zunehmenden Druck geriet, weil sie sozialdemokratische Privatdozenten duldete.

Am 3. August 1893, dem Geburtstag des königlichen Gründers, dem die Universität ihren damaligen Namen verdankte, hielt Virchow die Festansprache. In ihr blickt er auf die ersten achtzig Jahre Universitätsgeschichte zurück und macht am Ende nur eine kurze Bemerkung zur sittlichen Verfassung der Gegenwart. Doch darin trifft er den Nerv jener "Realpolitik", die dabei ist, die Grundsätze der Menschheit zu missachten.

Die rhetorische Pointe ist glänzend gesetzt: Nachdem Virchow die Erfolge der Wissenschaft gerühmt hat, kann er nur darüber staunen, wozu die "Abenteurer der Volksseele" den Zeitgeist verführen: Noch stehe man "rathlos vor dem Rätsel des Antisemitismus, von dem niemand weiss, was er eigentlich in dieser Zeit der Rechtsgleichheit will". Liegt die Faszination des Antisemitismus nicht gerade darin, dass er das Recht verletzt? Ist er vielleicht eben deshalb für die Jugend so attraktiv? Aber wenn es nur die Jugend wäre! Mit bitterer Ironie fügt Virchow an: "Bis jetzt hat man noch keine Professur für Antisemitismus gefordert, aber es wird erzählt, dass es schon antisemitische Professoren gebe."

Gegen den Zeitgeist

Virchow wusste genau, dass es sie längst gab. Und er kannte auch ihre Verbündeten, eben die damals so genannte "Realpolitik". Gegen sie hatte er sich schon als junger Arzt gewehrt - und diese keineswegs bloß mit dem sittlichen Ernst des Wissenschaftlers, sondern stets auch mit dem klaren Blick für die Realität des menschlichen Daseins. Doch der Zeitgeist war gegen ihn.

Wir brauchen heute nicht nur an den Verfall des Rechtsbewusstseins oder an den Rechtsradikalismus zu denken, um die Aktualität von Virchows Rede zu erkennen. Wegweisend ist sein Appell, die Wissenschaft als ein intellektuelles Vorhaben zu begreifen. Es ist unerheblich, wie sich eine Disziplin nennt. Entscheidend ist allein, dass sie Erkenntnisse zu Tage fördert. Dabei sollte sie vermeiden, in allem eine "neue Wahrheit" mit "phantastischen Schlussfolgerungen" zu suchen. Sie sollte immer erst fragen, ob sich die "neuen Erscheinungen" nicht durch alte Gesetze erklären lassen: "Wer in jeder Ausnahme ein neues Gesetz zu finden hofft, der ist nicht viel besser dran, als wer in jeder Ausnahme ein Wunder erblickt."

Auch darin ist das 20. Jahrhundert Virchow nicht gefolgt. Die "Abenteurer der Volksseele" haben wissenschaftlich Karriere gemacht. Sie sind nach Ausnahmen süchtig, suchen in allem nach den feinen Unterschieden zwischen Methoden und Disziplinen und haben vergessen, dass zur "intellektuellen" auch die "sittliche" Welt gehört. Vielleicht ermöglichen die Erfolge der Biowissenschaften, die durchaus in der Tradition von Virchows physiologischen Forschungen stehen, dass sich die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts endlich als das wichtigste intellektuelle Projekt der Menschheit begreift.

Volker Gerhardt

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