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Wie Fukushima am Ozean: Südlich von Rio entsteht der Reaktor Angra III – auf dem Stand der Technik der 1980er Jahre. Der in den Nachbar-Kraftwerken angefallene Atommüll lagert auf diesem Gelände.

© Philipp Lichterbeck

Atomkraft: Brasilien baut Reaktor mit deutscher Uralt-Technik

36 Jahre lang halfen Deutsche Brasilien beim Bau seiner ersten Kernkraftwerke. Nach Fukushima stiegen die Deutschen aus. Also bauen die Ingenieure den Reaktor Angra III nach alten Plänen und mit alten Bauteilen weiter - trotz größter Sicherheitsbedenken. Ein Besuch auf der Baustelle.

Angra dos Reis - Aus Rio de Janeiro kommend fährt man drei Stunden gen Süden. Die Straße schlängelt sich durch die Berge und immer parallel zur Grünen Küste, der Costa Verde. Hinter einem bewaldeten Pass öffnet sich plötzlich der Blick aufs tiefblaue Meer, fast übersieht man die beiden in der Sonne leuchtenden Atomreaktoren. Der erste hat die Form eines Zylinders, der zweite die einer Kuppel. Nicht weit entfernt ragen Kräne über einem kreisrunden und einem kantigen Rohbau auf, Hunderte von Männern in blauen Overalls gießen Beton.

Früher lebten in dieser Gegend die Guaraní-Indianer. Sie nannten die kleine Bucht „Itaorna“. Es bedeutet: verdorbener Stein. Die Indianer wussten, dass der Untergrund in der Gegend instabil ist und es zu Erdrutschen kommen kann. Das hielt Brasiliens Militärregierung in den siebziger Jahren nicht davon ab, hier zwei Atomkraftwerke zu errichten: Angra I wurde 1972 vom US-Konzern Westinghouse begonnen und ging 1985 mit einer Leistung von 640 Megawatt ans Netz. Mit dem Bau von Angra II beauftragten die Brasilianer 1975 Siemens-KWU im Rahmen des Deutsch-Brasilianischen Atomabkommens, das damals insgesamt acht Reaktorneubauten vorsah. Die Anlage lieferte wegen Finanzierungsproblemen erst ab 2001 Energie: 1350 Megawatt. Nun wird auf dem Gelände seit 2010 das dritte AKW Brasiliens errichtet: Angra III mit einer anvisierten Leistung von 1405 Megawatt.

In Deutschland steigt man nun schrittweise aus der Atomkraft aus, in Brasilien erst richtig ein. Das Argument lautet: Wir brauchen Strom, um den Energiebedarf unserer aufstrebenden Nation zu decken. Experten sagen eine Verdreifachung des Verbrauchs bis zum Jahr 2050 voraus. Größter Abnehmer ist Brasiliens neue Schwerindustrie: Aluminium-, Stahl-, Zement- und Eisenwerke. Zwar setzt Brasilien bei der Energieerzeugung vor allem auf Wasserkraft – 90 Prozent des Stroms stammen aus den mehr als 200 Wasserkraftwerken – doch immer öfter ausbleibende Regenfälle führen zu Engpässen. Außerdem erschöpft sich das Potenzial für weitere Dammbauten. Nun gilt die Atomenergie als ein Ausweg und wird von Brasiliens staatlichem Stromkonzern Eletrobras mit seiner Sparte Eletronuclear als billige und saubere Alternative zu Kohle und Öl gepriesen. Es ist dieselbe Argumentation der Atomlobby auf der ganzen Welt.

Zurzeit entstehen rund um den Globus 65 neue Atomkraftwerke. Allein 31 davon in China, erklärt Luiz Roberto Cordilha und zieht die Augenbrauen hoch. „Aber darüber beklagt sich niemand.“ Cordilha gehört zu den 500 Ingenieuren, die im Atomkomplex Angra beschäftigt sind. Der 62-Jährige arbeitet seit 1977 hier. Er führt zu einer Aussichtsplattform über der Baustelle von Angra III. Die Anlage wird heute allein vom französischen Areva-Konzern gebaut, nachdem Partner Siemens seine Anteile am Jointventure vor zwei Jahren verkauft hat. 40 Prozent der Reaktorhülle und der nicht atomsensiblen Bereiche sind bereits vollendet. Nun hofft Cordilha, dass das Kraftwerk, dessen Bau umgerechnet knapp 3,8 Milliarden Euro kosten soll, bis 2016 fertig wird. „Die Chinesen machen so was in vier Jahren“, sagt Cordilha neidisch.

Der Bau von Angra III begann bereits 1984, wurde aber 1986 wegen Geldmangels ausgesetzt. Jetzt ist die Finanzierung über die Nationale Brasilianische Entwicklungsbank gesichert. „Wir brauchen euer Geld nicht mehr“, spricht Cordilha die lange umstrittene Hermes-Bürgschaft der Bundesregierung zur Absicherung des Baus an. Sie ist vom Tisch. Die Brasilianer betrachten Angra III daher auch als Symbol für die neue Unabhängigkeit.

An den Bauplänen für Angra III hat sich allerdings in den letzten 25 Jahren nicht viel verändert: Angra III ist baugleich mit Angra II und das älteste Projekt in Arevas Produktpalette. Viele der Komponenten für den Druckwasserreaktor lagern seit den Achtzigern in einer riesigen Halle auf dem Kraftwerksgelände. Beim Gang durch die Halle entdeckt man Metallrohre und Ventile, deren Gewinde leicht korrodiert sind. Mitten in der Halle steht eine Wasserpumpe aus der Uraca-Fabrik im schwäbischen Bad Urach, Baujahr 1984. „Das Alter ist bei diesen Geräten egal“, meint Cordilha.

Der Atomingenieur führt in die Anlage Angra II. Durch ein Fenster kann man ins Kontrollzentrum blicken. Eine Handvoll Techniker sitzt vor Bildschirmen und macht sich Notizen. Die Anlage laufe gerade unter Volllast, erklärt Cordilha. „Klar, Fukushima hat auch bei uns etwas ausgelöst“, spricht er die augenfällige Parallele an. Wie der japanische Katastrophenreaktor steht Brasiliens Atomkomplex an der Küste eines Ozeans, nur wenige Meter über dem Wasserspiegel. Er liegt zudem in der Nähe der 170 000 Einwohner zählenden Stadt Angra dos Reis und im Dreieck der Millionenstädte São Paulo, Rio und Belo Horizonte. „Wir haben uns nach Fukushima zusammengesetzt und jedes Detail überprüft“, sagt Cordilha. „So etwas kann bei uns nicht passieren. Unsere Notstromaggregate liegen nicht unter dem Wasserspiegel.“

Nicht alle teilen diese Meinung. Francisco Correa hat für die brasilianische Umweltbehörde Ibama gearbeitet und war am Genehmigungsverfahren für Angra III beteiligt. Gemeinsam mit Célio Bermann, Professor am Institut für Elektrotechnik und Energie der Universität São Paulo, hat er ein Gutachten für Greenpeace über Angra III erstellt. Die Wissenschaftler kommen darin zu dem Ergebnis, dass der Reaktor in Sicherheitsaspekten weit hinter heutigen Standards zurückbleibe. So schütze die 60 Zentimeter dicke Kuppel nicht gegen Flugzeugabstürze. Ebenso wenig verfüge die Anlage über vier redundante Sicherheitssysteme, wie es heute international üblich sei. Teilweise genüge Angra III nicht einmal den Sicherheitsanforderungen, die nach dem Unfall in Three Mile Island 1979 aufgestellt worden waren.

Die größte Gefahr gehe allerdings von Erdrutschen aus, die sich in der regenreichen Region von den Hängen rund um den Komplex lösen könnten.

Völlig ungeklärt ist – wie in Deutschland – die Endlagerung des Atommülls. 2500 Kubikmeter des hochgiftigen Abfalls lagern in mehreren Betonbunkern auf dem Angra-Gelände. Sie stehen etwas erhöht über dem Meer zwischen Felswänden und Wald. „Es ist nicht unsere Verantwortung, ein Endlager zu suchen“, sagt Chefingenieur Cordilha. Zudem sei die brasilianische Nuklearproduktion noch so jung, dass sich die Frage gar nicht stelle. „Aber bis es soweit ist, wird sich schon etwas finden.“

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