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„Wenn die deutsche Industrie die Kurve kriegt, dann hier in Berlin“, meint Nico Gramenz.

© Doris Spiekermann-Klaas

Chef des Start-up-Campus "Factory Berlin": „Hierarchien haben keinen Nutzen“

Nico Gramenz, neuer Chef der Factory Berlin, im Tagesspiegel-Interview über Versuche von Unternehmen, innovativ und digital zu werden und den Kreuzberger Streit um Google & Co.

Nico Gramenz (39), leitet seit Beginn des Jahres die Factory Berlin. Zuvor war er Strategiechef und Vizepräsident bei Siemens Mobility. Gramenz stammt von der Insel Rügen und hat an der Universität der Bundeswehr in Hamburg Wirtschaftsingenieurwesen studiert. Später folgten Master in Business Administration und Wirtschaftspsychologie in Reutlingen und der Fernhochschule Hamburg. Die Factory Berlin wurde 2014 als Co-Working- Space und Start-up-Campus in der Rheinsberger Straße in Mitte eröffnet. Firmen wie Soundcloud haben dort ihren Sitz. 2017 eröffnete ein zweiter, deutlich größerer Standort am Görlitzer Park in Kreuzberg. Dieser Campus beherbergt auch den neuen IoT-Hub der Bundesregierung.

Herr Gramenz, Sie hatten sich mit Siemens in der Factory Berlin eingemietet. Hat es Ihnen so gut gefallen, dass sie jetzt gleich komplett als Chef dorthin gewechselt sind?
Da muss ich etwas ausholen. Wir waren mit Siemens Mobility inmitten der digitalen Transformation und mussten uns ändern und öffnen. Denn ich glaube der größte Hebel der Veränderung ist nicht die Technologie, sondern Arbeitsgestaltungsmaßnahmen. Daher sind wir mit 20 Leuten in die Factory gegangen, das war eine Art Testballon für neues Arbeiten. Die Vision der Zusammenarbeit über Unternehmen hinweg ist toll, daran glaube ich. Aber auch wenn wir viel erreicht haben, bin ich nicht bei allem begeistert, wie es gelaufen ist und habe viel mit Udo Schloemer von der Factory gestritten.

Worüber?
Ich glaube, man kann die Unternehmen noch besser begleiten. Als ich hier eingezogen bin, war alles cool und sexy. Aber oft habe ich das gemacht, was ich sonst auch getan habe, also telefoniert oder Mails geschrieben. Das ist natürlich falsch, denn ich habe nur den Arbeitsort verändert. Doch es geht ja vor allem um den Austausch, das ist auch der große Unterschied der Factory zu Co-Working-Anbietern.

Sie meinen alle Arbeitsplätze für Freiberufler, Kreative, Start-ups und Unternehmen – was ist in der Factory anders?
Es ist explizit kein Co-Working. Die Factory kommt daher, aber hat sich weiterentwickelt. Wir verstehen uns als eine Community, doch eine Gemeinschaft kann ich nur bauen, indem ich sage, welche Mitglieder ich dort haben möchte. Entscheidend ist es daher, auch nein zu sagen, zu denen die hineinwollen.

Nach welchen Kriterien wird entschieden, wer hinein darf und wer nicht?
Es gibt da keinen genauen Kriterienkatalog. Aber der Standort am Görlitzer Park ist auch das IoT-Hub der Bundesregierung, deshalb ist das Internet-der-Dinge ein technologischer Schwerpunkt. Wir haben jetzt 18 Start-ups aufgenommen, die sich mit Vernetzung und IoT beschäftigen. Entscheidend ist aber die richtige Einstellung. Das heißt, ich zahle auch etwas in die Community ein und ziehe nicht nur etwas heraus. Gerade bei Großunternehmen muss man manchmal aufpassen, da gibt es teilweise die Vorstellung, man holt sich in Orten wie hier Informationen und Inspiration, aber schließt seine Türen. Das wollen wir explizit nicht.

Der zweite Standort am Görlitzer Park wurde vor gut einem Jahr geöffnet, wie ist inzwischen die Belegung?
Wir bekommen hunderte Anfragen pro Monat und nehmen davon etwa 40 Prozent auf. Insgesamt haben wir an beiden Standorten 3000 Mitglieder und hätten Kapazitäten für bis zu 10 000 Personen. Gerade hier gibt es also noch Plätze. Wir wollen aber nicht jeden nehmen, das ist eher die Metrik von Co-Working-Spaces.

Wie groß ist der Anteil von Konzernen?
Wir haben zehn Prozent Großunternehmen, zwanzig bis dreißig Prozent Start- ups und ganz viele Talente.

Große Unternehmen hoffen, an solchen Orten kreativer zu werden. Ist das nicht oft eine Illusion? Wie sehr kann man sich tatsächlich gegenseitig helfen?
Die Frage musste ich als Nutzer mit Siemens auch beantworten. Doch es gab nicht ein Meeting, das verschwendete Zeit war. Gleich am ersten Tag habe ich beispielsweise jemanden getroffen, der in zwölf Wochen Ingenieure zu Data Scientists weiterbildet, solche Kontakte sind für Großunternehmen super hilfreich. Wir wollen den Nutzen künftig aber auch viel mehr messen und entwickeln ein digitales Produkt zur Vernetzung, um gezielt die zusammen zu bringen, die etwas benötigen und die entsprechenden Fähigkeiten haben.

Von ihren tausenden Mitarbeitern können Konzerne nur kleine Teams in solche Plätze bringen. Wie können sie in den Zentralen innovativer werden?
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Hierarchien in der heutigen Welt, wo vor allem geistige Leistungen erbracht werden müssen, keinen Nutzen haben. Trotzdem ist das in vielen Unternehmen, Schulen und Universitäten noch nicht angekommen. Stattdessen haben wir viele alte Systeme, die in Preußen und während der Industrialisierung entstanden sind. Und Innovation wurde lange durch hierarchische Systeme verhindert. Jemand hat 20 Jahre in der Fabrik gearbeitet, ist dann Chef geworden und sagt dann den anderen am Fließband, was zu tun ist. Doch heute kann ein Werkstudent kommen und weiß mehr über Blockchain als ich. Für mich ist es wichtig, dem zuzuhören, der mir gegenübersitzt. Das zu ermöglichen ist die große Transformation, die wir vor uns haben.

Siemens setzt dafür auf einen großen Innovationscampus in Berlin. Freuen sie sich oder fürchten sie die die Konkurrenz?
Nein. Die Entscheidung ist gut für die Stadt und es ist auch gut für Europa, so viel Technologie an einen Ort zu bekommen. Und wenn die deutsche Industrie im Wettbewerb mit Asien und dem Silicon Valley die Kurve kriegt, dann hier in Berlin. Es ist aber auch eine Herausforderung, eine gute Mischung hinzubekommen und die Talente und Start-ups nach Spandau zu kriegen. Das ist ja noch nicht so sexy, andererseits gibt es da noch Chancen, vielleicht günstig zu wohnen. Anders als im angesagten Kreuzberg.

Google hat sein Campus-Projekt nach Protesten abgesagt. Wie bewerten Sie das?
Wir können uns vor der Digitalisierung nicht schützen. Man kann also schlecht sagen, geht zurück, macht das im Silicon Valley, damit wollen wir nichts zu tun haben. Es ist daher wichtig, dass beide Seiten in Dialog treten. Genau das versuchen wir auch hier, denn wir werden ja auch manchmal mit dem Google Campus in einen Topf geworfen.

Einige Gentrifizierungs-Gegner haben die Factory explizit als Ziel genannt. Wie macht sich das bemerkbar?
Ich selbst habe da nichts erlebt und kann zur Vergangenheit wenig sagen. Doch ich unterhalte mich gerne mit Kritikern. Wir wollen auch mehr Veranstaltungen durchführen, wo der Kiez zusammenkommen kann und wollen uns auch noch mehr für den Bezirk öffnen. Wir haben beispielsweise einen Democracy-Hackathon gemacht zur Frage, wie Technologie Demokratie wieder fördern kann. Auch hierzulande gibt es ja Zweifel und Diskussionen, warum bestimmte Parteien plötzlich so stark werden. Neue Technologien kommen, egal was wir tun. Man kann in einer Diskussion darüber mit Steinen werfen oder mit Worten, und ich glaube eher an das letztere. Deswegen sind unsere Türen offen, deswegen haben wir ein öffentliches Café und Restaurant.

Dem widerspricht aber das Prinzip, viele Bewerber abzulehnen. Was machen Sie, wenn Künstler aus dem Kiez in der Factory arbeiten wollen?
Derzeit vielleicht, aber genau das wollen wir ändern. Ich glaube Unternehmen können bei der digitalen Transformation von Musik und Kunst viel lernen und uns kann diese Verbindung helfen, noch besser im Bezirk anzukommen. Die Frage ist dann nur, wie viele Leute werden gebraucht, die beispielsweise Videos drehen?

Und wie viel müssen Künstler zahlen, die in der Factory arbeiten wollen?
Da gibt es verschiedene Modelle. Die volle Mitgliedschaft kostet 119 Euro pro Monat, Studenten und Doktoranden zahlen nur 30 Euro. Und wir haben einen Tarif für Nomaden, die viel unterwegs sind, die können für 50 Euro bis zu vier Mal im Monat kommen.

Um solche Leute wirbt auch der Co-Working-Riese WeWork und bietet Arbeitsplätze in den meisten großen Metropolen. Wie kann die Factory da mithalten?
Wenn es darum geht, irgendwo einen Arbeitsplatz zu haben, ist WeWork tatsächlich dominant. Doch das ist das alte, raumesbreite Co-Working-Konzept. Wir bieten aber ein ganz anderes Netzwerk. Und für Mitglieder, die viel unterwegs sind, haben wir auch Partnerschaften in Städten wie Paris oder New York, wo sie ebenfalls einige Tage arbeiten und sich vernetzen können. Solche Kooperationen werden auch weiter ausgebaut. Das ist Teil unserer Internationalisierungsstrategie.

Soll es dabei auch eigene Factory-Ableger im Ausland geben?
Wir haben hier mehr als 70 Nationalitäten, ein nächster Schritt wären daher auch Standorte in anderen Ländern. Wir haben relativ viele Angebote und prüfen jetzt verschiedene Optionen und Modelle. Klar ist, dass wir uns internationalisieren wollen.

Andere deutsche Städte sind kein Thema?
Doch, wir sprechen auch mit anderen deutschen Städten. Wir wollen als Unternehmen wachsen und die Community besser und größer machen.

Das Gespräch führte Oliver Voß.

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