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„Deutschland ist auf Zuwanderung angewiesen“: Ökonomen sehen ohne Migration weder Wachstum noch Wohlstand möglich
Die Politik habe es zu verantworten, dass Migration eher als Bedrohung denn als Chance gesehen werde, schreiben die Wirtschaftsforscher des DIW. 400.000 Zuwanderer pro Jahr seien erforderlich.
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Ohne mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland scheitert die Transformation der Wirtschaft und „viele Unternehmen werden insolvent gehen“. Das schreibt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer neuen Studie und empfiehlt der Politik, Migration nicht als Bedrohung, sondern als Chance zu behandeln. Das trage zur Überwindung der gesellschaftlichen Polarisierung bei.
„Die neue Bundesregierung sollte sich das Ziel setzen, in den nächsten vier Jahren mindestens 1,6 Millionen ausländische Menschen in gute Arbeit zu bringen“, schreibt das DIW. Nur so könne die wirtschaftliche Stabilität gesichert werden. Dazu müsse Deutschland für ausländische Fachkräfte attraktiver werden und die Integration bereits hier lebender Schutzsuchender in den Arbeitsmarkt besser gelingen.
Der Ampel-Regierung bescheinigt das Institut, „in den letzten beiden Jahren in der Migrations- und Integrationspolitik einen gefährlichen Schlingerkurs gefahren“ zu sein. So seien jetzt Kürzungen in der Migrationsberatung für Erwachsene und in der psychosozialen Versorgung geplant. 2022 und 2023 habe die Ampel „noch zusätzliche Mittel bereitgestellt, um Integrationskosten zu decken“.
Sozioökonomische Faktoren wie Armut und fehlende gesellschaftliche Teilhabe sind entscheidende Ursachen für Kriminalität – unabhängig von der Herkunft oder Aufenthaltsstatus.
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
Der am 29. Januar mit der AfD im Bundestag verabschiedete „Fünf-Punkte-Plan“ der Union sei beschlossen worden, „obwohl empirische Daten zeigen, dass die Zahl der illegalen Einreisen bereits rückläufig ist“. Zudem ließen sich Gewalt- und Straftaten nicht vorrangig auf illegale Migranten zurückführen. „Vielmehr sind sozioökonomische Faktoren, wie Armut und fehlende gesellschaftliche Teilhabe, entscheidende Ursachen für Kriminalität – unabhängig von der Herkunft oder dem Aufenthaltsstatus“, schreiben die Ökonomen.
Die Ankündigungen des CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz, die deutsche Staatsbürgerschaft unter Umständen abzuerkennen und beschleunigte Einbürgerungsverfahren abzuschaffen und neue Hürden für eine duale Staatsbürgerschaft aufzubauen, seien kontraproduktiv. „Deutschland ist auf die aktive Beteiligung seiner Bürger*innen mit Migrationshintergrund sowie auf gelungene Integration und Zuwanderung angewiesen, um das Potenzialwachstum der Wirtschaft zu stabilisieren.“
Der Wirtschaftsboom nach der Finanzkrise 2009 wäre ohne Zuwanderung nicht möglich gewesen, fährt das DIW fort. „Ohne diese Zuwanderung gäbe es heute keinen Höchststand von 46,1 Millionen Beschäftigten in Deutschland, sondern seit vielen Jahren bereits schrumpfende Beschäftigtenzahlen.“
Mehr als 80 Prozent des Beschäftigungsaufbaus der vergangenen fünf Jahre gehe auf ausländische Arbeitskräfte zurück. Vor allem der Gesundheitsbereich würde ohne sie nicht funktionieren.
Das DIW warnt vor dem „Irrglauben“, wonach nur Hochqualifizierte „lohnenswerte“ Arbeitskräfte seien. „Dies ist grundfalsch und ein Schlag ins Gesicht für jeden Beschäftigten, der hart für mittlere oder geringe Löhne arbeitet.“ Gerade auch in systemrelevanten Berufen der Grundversorgung arbeiteten Menschen mit Einwanderungsgeschichte zu niedrigen Löhnen.
Defizite in der Integration
Bei der Integration zieht das Institut eine differenzierte Bilanz. Die Erwerbsquote bei schutzsuchenden Männern liege acht Jahre nach ihrer Ankunft bei 86 Prozent. „Allerdings gibt es bei neueren Fluchtkohorten, wie den Ukrainer*innen und bei geflüchteten Frauen insgesamt, noch erhebliches ungenutztes Potenzial.“
So liege die Erwerbsquote geflüchteter Frauen nach acht Jahren in Deutschland lediglich bei 33 Prozent und bei geflüchteten Ukrainern und Ukrainerinnen bei knapp 35 Prozent. Sprachbarrieren und ein Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten seien zentrale Hindernisse der Integration auf dem Arbeitsmarkt.
Mehr Schnelligkeit und Flexibilität bei der Anerkennung von Qualifikationen wäre hilfreich, meinen die Ökonomen. Auch sollten Unternehmen, die ausländische Mitmenschen ausbilden und beschäftigen, besser unterstützt werden. Schließlich plädiert das DIW für „ein Narrativ der politischen Akteure, das Migrant*innen und Einheimische als Partner bei der Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft sieht“. Das trage zum Abbau der Polarisierung bei.
„Die aktuellen Entwicklungen in der Migrationspolitik sowie die Signale von CDU/CSU und AfD gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland und die wirtschaftliche Zukunft“, resümiert das Institut. Statt einer sachlichen Debatte werde ein Klima der Vorurteile geschürt, „das sich auf einige wenige Einzelfälle stützt, statt das Gesamtbild differenziert zu betrachten“.
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