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Eine Straße in Stockholm-City am vergangenen Freitag.

© imago images/TT/Henrik Montgomery

„Größter Einbruch seit den 50er-Jahren“: Coronavirus trifft auch Schwedens Wirtschaft hart

Trotz des moderaten Kurses der Regierung in der Corona-Krise schlittert Schweden in eine schwere Rezession. Und die Fallzahlen steigen weiter.

Schwedens Umgang mit der Coronavirus-Krise hat dem Land international viel Aufmerksamkeit beschert, wegen der vergleichsweise hohen Zahl der Todesfälle aber auch enorme Kritik: Inzwischen gibt es 2586 Tote (Stand Donnerstag 14 Uhr). Die Mortalität liegt dreimal höher als in Deutschland. Die Infektionsrate ist mit rund 21.110 positiven Tests gemessen an der Einwohnerzahl vergleichbar mit der deutschen.

Die rot-grüne Minderheitsregierung von Premier Stefan Löfven dementiert zwar immer wieder, das Land gehe einen „Sonderweg“, aber in Europa hat nur Schweden keinen Lockdown verhängt. Kindertagesstätten und Grundschulen, aber auch Geschäfte quasi aller Art sowie die Gastronomie sind in dem Land mit seinen rund 10,2 Millionen Einwohnern weiter geöffnet.

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Der Wirtschaft des Landes scheint dies aber nicht zu nützen – trotz aller Hilfspakete der Regierung, die sich inzwischen dem Sender SVT online zufolge auf rund 140 Milliarden Kronen (etwa 13 Milliarden Euro) belaufen.

Am Donnerstag sah sich das unabhängige staatliche Konjunkturinstitut gezwungen, seine Prognose erneut deutlich zu korrigieren. „Wir sehen den größten Einbruch seit den 50er-Jahren“, sagte der Ökonom Eric Spector in Stockholm, wie SVT berichtete.

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Das Institut rechnet nun für das laufende Jahr mit einem um sieben Prozent niedrigeren Bruttoinlandsprodukt. Zuvor waren die Experten von drei Prozent ausgegangen. Auch Finanzministerin Magdalena Andersson rechnet für 2020 mit minus vier Prozent – für den Fall, dass die Coronavirus-Krise absehbar überwunden wird. Wenn nicht, könnte ihren Berechnungen zufolge sogar ein Rückgang um zehn Prozent drohen.

Für 2021 wird Arbeitslosenquote von elf Prozent erwartet

Düster ist die Lage dem Konjunkturinstitut zufolge auch für den Arbeitsmarkt. Für das kommende Jahr wird nun eine Quote von elf Prozent prognostiziert – und das nur, weil der Staat schon hilft. „Wir gehen davon aus, dass die Arbeitslosigkeit sonst rund 15 Prozent liegen dürfte“, sagte Spector.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet, dass die Arbeitslosenquote in Schweden 2020 von 6,7 (Deutschland: 3,8) auf zehn Prozent steigt. Beim BIP geht der IWF für Schweden von einem Rückgang um 6,8 Prozentpunkte aus. Deutschlands Wirtschaftsleistung wird demnach nur um 0,2 Prozentpunkte mehr schrumpfen. 2019 hatte das skandinavische Land noch ein Plus von 1,2 Prozentpunkte erzielt, das deutsche BIP legte 0,5 Prozentpunkte zu. Auch das schwedische Haushaltsdefizit könnte dem IWF zufolge auf minus 5,3 Prozent fallen. Für Deutschland werden 5,5 Prozent erwartet.

Scandinavian Airlines (SAS) entlässt Personal.
Scandinavian Airlines (SAS) entlässt Personal.

© Anders Wiklund/TT News Agency/Reuters

Schweden muss sich also ebenfalls auf eine sehr schwere Rezession einstellen. Völlig überraschend ist dies nicht, da die Wirtschaft stark abhängig vom Export ist. So haben große Industriekonzerne des Landes wie der Lkw- und Bushersteller Scania oder der Automobilproduzent Volvo nach wochenlangem Stillstand die Produktion gerade erst wieder hochgefahren. Am Mittwoch hatte Volvo mitgeteilt, in Schweden 1300 Stellen zu streichen. Tags zuvor hatte die skandinavische Fluggesellschaft SAS angekündigt, dass sie 40 Prozent der Mitarbeiter entlassen werde. In Schweden sind davon 1900 Vollzeitjobs betroffen.

Und der Modekonzern H&M etwa, wie Volvo auch an der Börse in Stockholm notiert, macht in Deutschland allein fast viermal so viel Umsatz wie in Schweden – und hier waren die Filialen bis vor kurzem zu.

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Doch es trifft nicht nur die ganz Großen. Die Zahl der Insolvenzen ist stark gestiegen. Auch Modehäuser und sogar die Gastronomen des Landes leiden unter den Folgen der Krise. Versammlungen von mehr als 50 Personen sind verboten, somit sind auch Clubs geschlossen, Tanzveranstaltungen finden nicht statt. Zwar dürfen Restaurants, Lokale und Bars öffnen, bedient werden darf aber nur an Tischen. Zudem gilt ein Abstandsgebot.

Löfven hatte Anfang April von Tausenden Toten gesprochen

Premier Löfven hatte zum erwarteten Ausmaß der Pandemie am 3. April der Zeitung „Dagens Nyheter“ gesagt, Schweden verfolge die Strategie, den Anstieg der Infektionsfälle zu verzögern, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. „Aber das beinhaltet zugleich, dass wir weitere Schwerkranke haben werden, die Intensivpflege benötigen, wir werden bedeutend mehr Tote haben. Wir werden mit Tausenden Toten rechnen müssen. Darauf sollten wir uns einstellen.“

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Die hohe Zahl der Toten in Schweden mag verwundern, wenn man sich folgende Zahlen anschaut: Das Land investiert rund elf Prozent des BIP der OECD zufolge in sein Gesundheitssystem - genauso viel wie die Bundesrepublik. Die Lebenserwartung liegt mit 82,7 Jahren sogar etwas höher als in Deutschland, wie Daten der Vereinten Nationen zeigen. Die Zahl der Intensivbetten konnte deutlich erhöht werden. Bisher gibt es ausreichende Kapazitäten.

Großes Problem in der aktuellen Krise aber ist die Lage in den Pflegeheimen. Dort fehlt es an Personal und Schutzausrüstung. Mehr als ein Drittel der Todesfälle werden aus solchen Einrichtungen gemeldet. Löfven sagt daher: „Wir müssen unsere älteren Bürger noch besser schützen.“

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Bisher weicht der Sozialdemokrat – abgesehen von verschärften Warnungen – aber nicht von seinem Kurs ab. Von Beginn an hatte er auf die Vernunft seiner Landsleute gesetzt. „Bleibt zu Hause, unterlasst unnötige Reisen, vermeidet soziale Kontakte. Jeder trägt Verantwortung“, lautet sein mehrfach wiederholter Appell.

Der Staatsepidemiologe Anders Tegnell berät die Regierung.
Der Staatsepidemiologe Anders Tegnell berät die Regierung.

© Anders Wiklund/TT News Agency/Reuters

Und dies schien zu funktionieren. Einem Bericht des „Handelsblatt“ zufolge zeigten Handydaten, dass die Schweden ihre Innenstädte verstärkt mieden. Und die überaus beliebte Ausflugsinsel Gotland verzeichnete über das Osterwochenende hinweg rund 95 Prozent weniger Besucher als in den Jahren zuvor.

Zuletzt wurde es in den Innenstädten des Landes und besonders in der Hauptstadt aber wieder voller. Weil das Abstandsgebot teilweise nicht eingehalten wurde und die Zahl der Neuinfektionen wieder stieg, schlossen die Behörden am vergangenen Wochenende in Stockholm fünf Restaurants und Bars. Die Hauptstadtregion ist bisher am schwersten von der Pandemie betroffen.

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Geleitet wird die Regierung bei ihren Entscheidungen von der Gesundheitsbehörde und dem Staatsepidemiologen Anders Tegnell, der nichts von den Lockdown-Maßnahmen anderer Länder hält. Die Nachbarländer Norwegen, Dänemark und Finnland beispielsweise entschieden sich früh für strikte Beschränkungen des Alltags, verzeichnen deutlich weniger Todesfälle sowie Infektionen und fahren das gesellschaftliche Leben langsam wieder hoch.

„Man hätte Heimbewohner früher schützen müssen“

Tegnell gestand zwar inzwischen ein: „Wir haben die Entwicklung der Todeszahlen unterschätzt.“ Und im SVT sagte er nun auf die Frage, ob er eine seiner Einschätzungen bereut, antwortete er: „Man hätte Senioren in Alten- und Pflegeheimen früher schützen müssen. Aber wir haben keine Kristallkugel, in der wir in die Zukunft schauen können.“

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Bisher bleibt Tegnell aber bei seiner Strategie. Man brauche nachhaltige Maßnahmen und dürfe nicht vergessen, dass strenge Verbote auch gesundheitliche Folgen haben, hatte er immer wieder betont. Isolation und Quarantäne könnten Langzeitschäden an Körper und Geist auslösen. Zudem ließen sich Schwedens Maßnahmen problemlos lange durchhalten – eine zweite Welle brauche man nicht zu befürchten.

Der Epidemiologe erwartet, dass sich die Zahlen der Todesfälle international angleichen. Schweden werde mit Freiwilligkeit genauso viel erreichen wie andere Länder mit scharfen Restriktionen. „Wir müssen immer auch auf die Wirtschaft schauen. Wir dürfen sie nicht zugrunde fahren“, so Tegnell.

In der Gastronomie gelten Abstandsregeln zwischen den Tischen.
In der Gastronomie gelten Abstandsregeln zwischen den Tischen.

© Jessica Gow/TT news Agency/Reuters

Dies sieht auch sein Vorgänger, der Epidemiologe und Regierungsberater Johan Giesecke, so. Er sagte in einem Interview: „Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg, dass Lockdowns tatsächlich einen Effekt haben.“ Man solle die Zahl der Todesfälle in einem Jahr vergleichen. „Der Unterschied zu Deutschland ist der, dass Deutschland gerade seine Wirtschaft zerstört“, sagte Giesecke.

WHO sieht in Schwedens Weg Zukunftsmodell

Unterstützung erhielten die Verantwortlichen in Schweden am Mittwoch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wie mehrere internationale Medien berichteten. Michael Ryan, der WHO-Notfalldirektor, sagte bei einer Videopressekonferenz in Genf, es gebe „Lektionen zu lernen“ von der skandinavischen Nation, die sich bei der Selbstregulierung weitgehend auf die Bürger verlassen habe.

„Ich glaube, es herrscht der Eindruck, dass Schweden keine Kontrollmaßnahmen ergriffen hat und nur die Ausbreitung der Krankheit zugelassen hat“, sagte Ryan. „Nichts kann weiter von der Wahrheit entfernt sein.“ Ryan sagte weiter, wenn eine neue Normalität erreicht werden solle, denke ich, „dass Schweden in vielerlei Hinsicht ein Zukunftsmodell darstellt: Wenn wir zu einer Gesellschaft zurückkehren wollen, in der es keine Lockdowns gibt, dann muss sich die Gesellschaft möglicherweise für eine mittlere oder auch längere Zeitspanne anpassen“.

Drei von vier Schweden für schärfere Maßnahmen

Der Kurs der schwedischen Regierung ist im Land allerdings längst nicht unumstritten; schon seit einiger Zeit fordern zahlreiche andere Wissenschaftler einen radikalen Kurswechsel. Die Bürger unterstützen allerdings bisher die Regierung, wie eine vor wenigen Tagen veröffentlichte Umfrage zeigte. Den zweiten Monat in Folge legten die Sozialdemokraten von Ministerpräsident Löfven deutlich zu. Die Partei kommt nun auf 30,4 Prozent, das sind 4,8 Prozentpunkte mehr als im Vormonat.

Ob sich dieses Bild angesichts steigender Fallzahlen ändert, ist schwer abzuschätzen. Eine aktuelle Umfrage der Stockholmer Handelshochschule zeigt jedenfalls, dass drei von vier Schweden sich inzwischen strengere Maßnahmen wünschen, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Und zwei von fünf Befragten sprachen sich für vorübergehende Ausgangssperren in Städten aus.

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