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Fachkräfte gesucht. Ohne Handwerker keine energetische Gebäudesanierung und kein Klimaschutz.

© imago/Sven Simon

Handwerkspräsident Wollseifer im Interview: „Olaf Scholz muss sofort ran“

Der Handwerkspräsident über die Erwartungen an die Ampel, zwölf Euro Mindestlohn und den Fachkräftemangel, der sich weiter verschärft.

Herr Wollseifer, wie groß ist die Vorfreude auf die „Fortschrittskoalition“?

Die Herausforderungen sind enorm, und damit meine ich nicht nur Corona. Ein Verantwortungsvakuum, wie wir es in den vergangenen Wochen erlebt haben, können wir uns nicht leisten. Als Bundeskanzler muss Olaf Scholz sofort ran.

Ihnen dürfte die Handschrift der FDP im Koalitionsvertrag gefallen.
Alles in allem ist der Vertrag sehr ambitioniert, hat sich als selbstgesteckten Anspruch die Modernisierung von Staat und Gesellschaft vorgenommen. Allerdings bleibt an vielen Stellen die Frage der Finanzierung offen, ganz besonders die Finanzierung der Sozialsysteme. Da hatte ich deutlich mehr erwartet.

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Mit zwölf Euro Mindestlohn kann das Handwerk leben?
Dass die Politik die Mindestlohnkommission und damit das bewährte sozialpartnerschaftliche Miteinander vorführt und eine neue Untergrenze festsetzt, das ist eine unhaltbare Situation. Das macht den Mindestlohn zum Spielball der Politik. Die Sozialpartner sind für die Tariffindung und in der Mindestlohnkommission für den Mindestlohn zuständig.

Mindestlohn als Spielball der Politik

Sofern überhaupt Tarife gezahlt werden.
In sehr vielen Branchen des Handwerks mit seinen mehr als 130 Gewerken gibt es tarifliche Mindestlöhne, die oberhalb von zwölf Euro liegen. Die Gewerke mit einer hohen Wertschöpfung haben kein Problem mit zwölf Euro. Aber es gibt viele andere, die sich überlegen müssen, wie sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch bezahlen können. Der Weg zu diesen zwölf Euro, die politische Festlegung, das ist vor allem das Problem.

Sie hätten gerne mehr Zeit?
Für Mitte nächsten Jahres hat die Mindestlohnkommission bereits eine Erhöhung auf 10,45 Euro beschlossen, das ist ja schon in Sichtweite der zwölf Euro. Die würden womöglich bis Ende 2023 sowieso erreicht. Der richtige Weg wäre, die Sozialpartner das festlegen zu lassen.

Hans Peter Wollseifer, Malermeister aus Köln, ist seit 2014 Präsident des Zentralverbands des deutschen Handwerks.
Hans Peter Wollseifer, Malermeister aus Köln, ist seit 2014 Präsident des Zentralverbands des deutschen Handwerks.

© dpa

Wegen des höheren Mindestlohns wird die Einkommensgrenze für Minijobs auf 520 Euro erhöht. Dabei wäre es doch für die Sozialkassen, die Ihnen so große Sorgen machen, eine Wohltat, wenn jede Beschäftigung sozialabgabenpflichtig wäre.
Minijobs brauchen wir, um bestimmte Phasen in den Betrieben abfangen zu können. Zum Beispiel in der Hochsaison in Lebensmittelgewerken oder auf dem Bau. Nicht selten sind es Studierende oder Rentnerinnen und Rentner, die schon ein Leben lang in die Sozialkassen gezahlt haben, die sich so etwas dazuverdienen. Wichtig ist eine Altersvorsorgepflicht für Selbstständige, wie die Ampel sie jetzt ja offenbar plant. Das trägt dazu bei, die Sozialkassen zu stabilisieren.

Aber das reicht vermutlich nicht, um die Sozialabgabenquote in der neuen Legislatur unter 40 Prozent zu halten.
Nehmen wir die Rentenversicherung mit der doppelten Haltelinie: Der Beitragssatz soll nicht steigen und das Rentenniveau nicht fallen. Das kann auf Dauer nicht funktionieren. Perspektivisch müssen wir das Rentenalter an die Altersentwicklung koppeln. Kurzfristig müssen wir gesamtgesellschaftliche Aufgaben auch gesamtgesellschaftlich finanzieren. Wir verhalten uns immer noch wie zu Bismarcks Zeiten und finanzieren unser Sozialsystem vor allem über die Löhne.

Was ist die Alternative?
Nehmen wir den Bereich Gesundheit: Die versicherungsfremden Leistungen sollten von der Gemeinschaft der Steuerzahler in voller Höhe und nicht von den Betrieben und ihren Beschäftigten getragen werden. Dass die Ampel-Koalition jetzt angekündigt hat, den Bundeszuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung zu dynamisieren, geht hier zwar in die richtige Richtung, reicht aber nicht. Und bei Investitionen in die Krankenhäuser machen sich Bund und Länder einen schlanken Fuß, indem die Beitragszahler auch hier zur Kasse gebeten werden.

"Wir müssen berufliche Bildung aufwerten"

Sind Sie wenigstens zufrieden mit den Ampel-Plänen für Aus- und Weiterbildung?
Ja – einmal ausgenommen die Ausbildungsgarantie. Ein Fokus auf die berufliche Bildung war auch unbedingt erforderlich, denn die großen Ziele der Koalition sind nur mit qualifizierten Fachkräften gerade auch im Handwerk zu erreichen. Ob das der Klimawandel ist, die Digitalisierung oder die ausreichende Versorgung mit altersadäquaten Produkten und Ausbauten für die Menschen im Alter. Mehr Anerkennung und Wertschätzung für die berufliche Bildung sind unverzichtbar, um die Fachkräftelücke zu schließen.

Und das finden Sie im Vertrag?
Jedenfalls viele Instrumente, die dazu beitragen: Exzellenzinitiative, höhere Berufsbildung, bessere Finanzierung der Berufsschulen und unserer handwerklichen Bildungsstätten, Aufstiegs-Bafög. Die Gleichstellung der beruflichen mit der akademischen Bildung – das muss das große Ziel sein. Die Ausbildungsgarantie aber lehnen wir ab. Denn es ist ja nicht so, dass Handel, Handwerk und Industrie nicht ausreichend Ausbildungsplätze bereitstellen. Allein im Handwerk bleiben jedes Jahr mehr als 18 000 Ausbildungsplätze unbesetzt. Es fehlen Bewerberinnen und Bewerber, nicht die Plätze. Deshalb brauchen wir keinen weiteren Ausbildungsplatzwettbewerb mit Schulen und außerbetrieblichen Bildungsträgern.

Womöglich sind die Betriebe zu anspruchsvoll bei der Auswahl von Azubis.
37 Prozent unserer Azubis kommen von der Hauptschule, vier Prozent haben gar keinen Abschluss, knapp 16 Prozent sind Abiturienten. Wir brauchen auch Abiturienten, weil mit der technologischen und digitalen Entwicklung die Ansprüche in vielen Gewerken steigen. Und weil allein in den nächsten fünf Jahren für rund 125 000 Betriebe neue Nachfolgerinnen und Nachfolger gefunden werden müssen. Die Mischung macht's also. Ein großes Problem ist jedoch, dass Handwerk vielfach an Gymnasien bei der Berufsorientierung nicht stattfindet.

Warum nicht?
Da überwiegt die Vorstellung, alle müssten Akademiker werden. Dabei spricht die Erfahrung dagegen. Rund 55 Prozent der Schulabgängerinnen und Schulabgänger entscheiden sich inzwischen für ein Studium, aber jedes Jahr brechen viele Tausende junge Menschen ihr Studium ab. Bei Vielen wäre das vermeidbar, wenn sie gleich eine Berufsausbildung wählen. Bleibt es bei dem Akademisierungstrend, haben viele Handwerksbetriebe keine Zukunft.

Also müssen Sie noch viel mehr aufklären über die großartigen Handwerksberufe.
Wir machen das schon, wo immer es möglich ist: Wir gehen bereits in die Kitas. Und wir entwickeln neue Ausbildungswege – Stichworte sind hier Berufs-Abitur oder Höhere Berufsbildung – und auch ganz neue Berufe. Zum Beispiel den Elektroniker für Gebäudesystemintegration, der ein komplettes Gebäude steuern kann. Kurzum: Wir brauchen Abiturienten, Real- und Hauptschüler für die ganze Breite handwerklicher Berufe.

25 000 Geflüchtete in Ausbildung

Wie viele Geflüchtete haben seit 2016 im Handwerk Arbeit gefunden?
Rund drei Jahre, bis zum ersten Coronajahr, haben Geflüchtete zu den steigenden Ausbildungszahlen beigetragen. Zurzeit haben wir im Handwerk rund 25 000 Geflüchtete in Ausbildung. Und viele Betriebe berichten mir, dass sie sie gerne übernehmen, wenn sie die Prüfung bestanden haben. Jede zweite Ausbildung eines Geflüchteten hat im Handwerk stattgefunden, das wegen seiner oft familiären Strukturen für die Integration junger Menschen prädestiniert ist. Das war und ist eine Erfolgsstory.

In diesem Jahr bleibt das Handwerk hinter dem Ausbildungsniveau von 2019 zurück.
Immerhin haben wir gegenüber 2020 rund zwei Prozent bei neuen Ausbildungsverträgen aufgeholt, liegen damit aber leider noch knapp sechs Prozent unter 2019. Die Kontaktbeschränkungen haben viele Betriebe hart getroffen.

Wie funktioniert die 3G-Regel?
Bei wechselnden Einsatzorten – zum Beispiel im Gebäudereinigerhandwerk, am Bau oder im Ausbau, ist das nicht so einfach. Da ist rechtlich noch nicht ganz klar, wie das mit den Kontrollen laufen soll, wie man etwa mit den täglichen Testergebnissen umgehen und sie dokumentieren soll. Dafür muss man jetzt mal bei der nötigen Rechtsverordnung ordentlich auf die Tube drücken.

Warum haben Sie Ihre Meinung geändert und befürworten nun eine Impfpflicht?
Die Situation hat sich geändert: Drastisch wird uns das doch vor Augen geführt, wenn Intensivpatienten inzwischen von einem Bundesland in ein anderes geflogen werden, weil die Überforderung von Krankenhäusern droht. Jetzt müssen sich alle solidarisch zeigen, weshalb ich mich einer allgemeinen Impfpflicht nicht mehr verwehre.

Wie wird das Handwerk im Frühjahr 2022 die vierte Welle überstanden haben?
Es könnte es einen deutlichen Aufschwung geben – wenn wir Corona in den Griff kriegen. Mittel- und langfristig aber belastet uns der Fachkräftemangel viel stärker als Corona.

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