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IG-Metall-Regionschef Otto über den Osten: „Die Nachwendeerfahrungen sind noch lange nicht verdaut“
Jan Otto, Gewerkschaftschef in Berlin, Brandenburg und Sachsen, über das Potenzial Ostdeutschlands, die Zukunft des VW-Werks in Zwickau und den Konflikt bei Tesla.
Stand:
Herr Otto, trifft die Industriekrise den Osten noch härter als den Westen?
Gefühlt schon. Ich möchte aber unterscheiden zwischen der Metropolregion Berlin-Brandenburg oder dem Silicon Saxony rund um Dresden und dem Osten in Gänze. Wir haben kaum Firmenzentralen, sondern vor allem verlängerte Werkbänke. Darin liegt aber auch eine Chance. Denn Neuansiedlungen haben wir in der Vergangenheit und auch aktuell vor allem bei uns.
Das hilft aber nicht den verlängerten Werkbänken.
Es sind eher kleine Einheiten, die leichter mit einem Ersatzprodukt erhalten werden können, als große Standorte in Bayern oder Baden-Württemberg. Das ist zwar eher eine nüchterne Analyse, aber eben auch eine Chance.
Kleine Einheiten lassen sich leicht abwickeln.
Zur Wahrheit gehört auch, dass die strukturelle Schwäche der Arbeitnehmer damit zusammenhängt, dass sich viele nicht frühzeitig einer Gewerkschaft anschließen. Dabei muss unsere Gegenwehr immer stark und laut sein.
„Gegenwehr“ zeigt sich eher in der politischen Radikalisierung.
Ich finde, die Ostdeutschen können kämpfen. Doch die Nachwendeerfahrungen, die viele hier im Osten hatten, sind noch lange nicht verdaut. Wir können eher Veränderungen oder Transformation als andere. Gleichzeitig macht es die Leute müde, wenn der Kampf nie endet.
Zumal keine Besserung in Sicht ist.
Ich glaube, dass in zehn Jahren der Osten und vor allem die Metropolregion Berlin-Brandenburg besser dastehen, als sich das viele heute vorstellen. Die Anpassungsfähigkeit ist hier extrem groß, das ist eine Chance.
Wie stark ist die Einschätzung verbreitet, der Osten werde schlechter behandelt als der Westen?
Das Gefühl ist da. Auch die Meinungen zum Funktionieren des Staats und der Bundesregierung sind häufig hammerhart. Viele fragen sich, ob sie hier im Osten überhaupt noch ein wichtiger Teil dieses Landes sind.
Warum ist der Osten kein normaler Teil Deutschlands, wie Sie sagen?
Es ist ja nie wirklich aufgearbeitet worden, was in den 1990er Jahren und danach passiert ist. Übrigens auch in der IG Metall nicht nach dem verlorenen Arbeitskampf 2003 um die 35-Stunden-Woche. Danach gab es eine lange Phase, wo der Osten links liegengelassen wurde. Von der Politik und den Gewerkschaften, weil oft auch nicht klar war, wie damit umzugehen ist.
Und das macht sich immer noch bemerkbar?
Fahren Sie mal von Stuttgart über Schwäbisch Gmünd nach Aalen und dann von Dresden über Bautzen nach Görlitz. Wie viele Gelegenheiten gibt es unterwegs, um einzukaufen, etwas zu essen oder zu tanken? Im Osten ist alles weg, im Schwabenland gibt es deutlich mehr Möglichkeiten. Da ist sichtbar, wie die Schwächung von Infrastruktur auch das Lebensgefühl verändert.
Wir wissen seit mehr als zehn Jahren, wie krass das antidemokratische Potenzial im Osten ist.
Jan Otto
Und das wirkt sich auf das Demokratieverständnis aus?
Wir wissen seit mehr als zehn Jahren, wie krass das antidemokratische Potenzial im Osten ist. Als damals die AfD erstmals in den Bundestag kam, wussten wir alle nicht, wie damit umzugehen ist. Daran hat sich nicht viel geändert. Aber wir werden besser.
Sie sagen, wenn es eine weitere Deindustrialisierung im Osten gibt, hätte das politische Folgen, „die niemand mehr kontrollieren kann“.
Wir haben jetzt schon die Tendenz, dass wir als Gewerkschaften in manchen Betrieben und Regionen Probleme bekommen, weil andere, radikale Kräfte auftreten. Irgendwann kommen auch wir an die Leute nicht mehr ran. Die Infrastruktur ist oft schlecht, Erbschaften sind im Vergleich zum Westen mickrig, und die Rente reicht nicht. So bleibt am Ende der Eindruck: Ich bin diesem Staat egal.
Und damit auch der IG Metall?
Die Rolle, die wir hier als IG Metall einnehmen können, ist eine wichtige, aber eben auch mit massivem Einsatz von Ressourcen verbunden. Wir stehen oft vor der Frage: Sanierungstarifvertrag oder Zukunftstarifvertrag? Mit dem einen regeln wir die Zukunft, mit dem anderen das Ende. In Berlin hatten wir im Frühjahr fünf Betriebe in der Existenzkrise. Zwei davon konnten wir nicht retten, weil wir die Kapazitäten nicht hatten. Und die Kapazitäten hatten wir nicht, weil es in den Betrieben zu wenige Gewerkschaftsmitglieder gab. Das macht es für uns schwierig, obwohl wir in gut organisierten Betrieben eine gute Gegenwehr hinbekommen.

© Jan Woitas/dpa
Gilt das auch für die knapp 8000 VW-Arbeiter in Zwickau, die zugunsten von Wolfsburg Modelle und Arbeitsplätze verlieren?
Die Decke ist überall kurz im VW-Konzern. Wir reden jetzt über Tätigkeiten, zum Beispiel Recycling, die dauerhaft eine Perspektive in Zwickau haben. In einer Arbeitsgruppe mit Sachsen und dem Bund suchen wir nach Lösungen. Es darf doch nicht sein, dass das erste VW-Werk, das zum E-Auto-Werk transformiert wurde, nicht überlebt. Und das in einer Region, in der Elektromobilität weitgehend abgelehnt wird.
Ist Zwickau Ihre größte Baustelle?
Ja, weil eine ganze Region infrage steht.
Nicht nur VW ist in Schwierigkeiten. Im Kernland der Industrie, in Baden-Württemberg, wird wenig investiert, auch nicht in KI. Wie ist das im Osten?
Die Kapitalisten fahren heute eine andere Strategie als früher: Werke werden nicht in einem Zug stillgelegt, sondern nach und nach so geschwächt, dass es irgendwann keinen Sinn mehr macht, sie zu betreiben. Und ja, der Investitionsstau ist riesengroß. Die Transformation in Deutschland treibt zu 90 Prozent die IG Metall voran.
Was ist mit KI?
Vielen Unternehmen, vor allem auf der mittleren Führungsebene, sind Transformation und KI ziemlich egal. Anders ist die Situation in Berlin. Die Metropolregion ist mit der hier ansässigen Digitalwirtschaft voraussichtlich in den nächsten zehn Jahren die einzige Region, die noch nennenswertes Wachstum erleben wird. Auch mit Blick auf das Bevölkerungswachstum.
Wird es in zehn Jahren die 1800 Arbeitsplätze bei Mercedes in Ludwigsfelde noch geben? Der Konzern verlagert die Fertigung des elektrischen Sprinters nach Polen.
Ich glaube, da kriegen wir etwas hin. Wir brauchen auf jeden Fall ein Nachfolgeprodukt in Ludwigsfelde. Es ist für Mercedes keine Option, sich aus Berlin und Brandenburg zurückzuziehen und Tesla das Feld zu überlassen.
Wenn das Aus für den Verbrenner später kommt, dann kann auch der Sprinter länger gebaut werden.
Das ist nicht meine Haltung. „Raus aus dem Verbrenner-Aus“ halte ich für einen Irrweg. Die Welt tickt doch ganz anders. Die deutschen Automobilisten haben die Umstellung auf Elektromobilität schon viel zu lange verschlafen. Dass wir als Autonation es nicht geschafft haben, ein bezahlbares Elektroauto zu bauen, ist unfassbar.
Wir brauchen bei Tesla ein deutlich aggressiveres Vorgehen.
Jan Otto
Bei den deutschen Konzernen bestimmt die IG Metall mit, bei Tesla nicht. Im Betriebsrat in Grünheide stellt die Gewerkschaft nur eine Minderheit.
Ich glaube, dass wir bei Tesla ein deutlich offensiveres Vorgehen brauchen und ein paar Dingen ausprobieren müssen. Dazu gehört die Weihnachtsgeldaktion: Auf Weihnachtspostkarten fordern rund 3500 Beschäftigte ein Weihnachtsgeld von mindestens 1500 Euro. Für einen Betrieb, in dem jeder Schiss hat, sich zur IG Metall zu bekennen, weil es mit viel Druck verbunden ist, ist das verdammt viel.
Trotzdem ist Grünheide für die weltweit größte Industriegewerkschaft ein schwieriges Pflaster.
Die Betriebsratswahl in der ersten Jahreshälfte 2026 ist unser großes Ziel. Wir erwarten Täuschungsmanöver und Tricks von der Werkleitung und dem arbeitgebernahen Betriebsrat und sind auf alles vorbereitet.
Der Werkleiter warnt die Belegschaft vor der IG Metall und versucht damit Einfluss zu nehmen auf die Betriebsratswahl. Dagegen könnten Sie juristisch vorgehen.
Mein Ansatz ist ein machtpolitischer. Wir müssen bei Tesla bei den Wahlen die Mehrheit gewinnen. Die haben Angst vor uns, weil wir die Beschäftigten schützen. Sie wollen keine ernsthafte Beteiligung der Belegschaft und ihrer Gewerkschaft. Dass der Eigentümer und reichste Mensch der Welt nach Grünheide kommt, um vor der IG Metall zu warnen, ist ein einmaliger Vorgang.
Das wird er vermutlich wieder tun.
Die Belegschaft war neu und die Fluktuation in der ersten Zeit groß. Jetzt sind wir in einer Phase, wo sich das verstetigt und wir mit den Leuten ins Gespräch kommen. Die Leute bei Tesla sind nicht zufrieden. Dabei steht Geld gar nicht im Vordergrund. Viele möchten keine Angst mehr haben, wenn sie krank sind oder ihren Urlaub nehmen wollen.
Wie gewinnt die IG Metall Mitglieder in einem Betrieb, in den sie nicht reinkommt?
Wer sagt denn, dass wir als IG Metall nicht reinkommen? Da gehen jeden Tag mehr und mehr aktive IG Metallerinnen und Metaller ein und aus. Wie in fast allen anderen Betrieben sind das diejenigen, die ihre Kolleginnen und Kollegen als Mitglieder gewinnen. Ich komme aus der Erschließungsarbeit und freue mich auf die Aufgabe in Grünheide.
Und wann setzt die IG Metall einen Tarifvertrag bei Tesla durch?
Wenn die Kolleginnen und Kollegen irgendwann streikfähig sind, bekommen wir eine andere Diskussion. Musk muss dann klären, wie viel Geld er aus ideologischen Gründen verbrennen will. Oder er nimmt die Einladung an und verhandelt mit der IG Metall, wie das die anderen in Deutschland tätigen Autohersteller auch tun. Darin liegt auch für Tesla eine Chance, die sie jetzt offensichtlich noch nicht sehen.
Wie viel Prozent der Beschäftigten müssen in der IG Metall sein, damit der Betrieb streikfähig ist?
Wir müssen deutlich schlagkräftig sein, um die Forderungen auch durchsetzen zu können. Einen Tarifvertrag bekommt man nicht geschenkt. Es braucht also mehr als nur eine einfache Mehrheit. Und die werden wir bekommen, daran arbeiten wir jeden Tag.
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