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2003 verlor die IG Metall den Arbeitskampf um die 35-Stunden-Woche. Die Niederlage wirkt bis heute nach.

© Martin Schutt dpa

Im Reich der kleinen Könige: Die IG Metall tut sich im Osten schwer

Der aus Sachsen, Brandenburg und Berlin bestehende Gewerkschaftsbezirk ist chaotisch und führungsschwach. Industrie und Industriegewerkschaft stecken in der Krise.

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Als Dirk Schulze sich im Frühjahr 2023 an der ostdeutschen Basis vorstellte, gab er den Metallern ein Versprechen. Er komme, um zu bleiben, betonte der damals 52 Jahre junge Gewerkschaftsfunktionär, der zuvor die IG Metall in Hannover geführt hatte. Der neue Bezirksleiter aus dem Westen wollte die Region im Osten unbedingt länger führen als seine Vorgänger. Zwei Jahre später hat Schulze aufgegeben und ist zurück nach Niedersachsen geflüchtet.

Der Bezirk, den die IG Metall vor 30 Jahren durch die Zusammenlegung von Sachsen, Brandenburg und Berlin gebildet hatte, ist ein schwieriger Haufen. Hauptamtliche Gewerkschafter beschäftigen sich mehr mit sich selbst als mit dem Klassenfeind. „Die hassen sich alle“, sagt eine Metallerin über die Funktionäre.

Mit gut zwei Millionen Mitgliedern ist die IG Metall die größte deutsche Gewerkschaft. Bundeszentrale und Vorstand sitzen in Frankfurt am Main, in der Fläche gliedert sich die IG Metall in sieben Bezirke sowie 145 Geschäftsstellen. Der ostdeutsche Bezirk ist mit elf Geschäftsstellen und 142.000 Mitgliedern der kleinste. Die Geschäftsstellen werden von gewählten Bevollmächtigten geführt, die sich in Berlin, Brandenburg und Sachsen wie kleine Könige aufführen. Viel auf die Reihe kriegen sie aber nicht.

Die gewerkschaftliche Musik spielt da, wo Arbeitskämpfe geführt und gewonnen werden und für das ganze Land Tarifabschlüsse gelingen – in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bayern. Ostdeutschland ist mit wenigen Mitgliedern und einer geringen Tarifbindung für alle Gewerkschaften ein Entwicklungsgebiet.

„Ich habe ein Faible für den Osten“, sagt die IG-Metall-Vorsitzende Christiane Benner, und begründet das mit ihrer Arbeit in Sachsen-Anhalt. Das Bundesland gehört zum Bezirk Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, wo Benners Gewerkschaftskarriere begann. Thüringen ist Teil des Bezirks Mitte (neben Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland) und Mecklenburg-Vorpommern bildet mit Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Teilen Niedersachsens den Bezirk Küste.

Als reiner Ostbezirk gilt der Zusammenschluss von Sachsen, Berlin und Brandenburg. Das erklärt teilweise die Probleme.

Historische Niederlage für die IG Metall

Hasso Düvel, auch ein Niedersachse, wurde 1995 der erste Bezirksleiter im Osten. Der ambitionierte Gewerkschafter führte die Ossis 2003 in einen Streik, um die Verkürzung der Arbeitszeit in Richtung 35 Stunden durchzusetzen. Die 35-Stunden-Woche gilt im Westen seit Mitte der 1990er Jahre, die Metaller im Osten arbeiten ein paar Stunden länger. Düvel wollte die Arbeitszeit im Arbeitskampf angleichen, doch er schätzte seine Truppen falsch ein.

Die Streikbereitschaft war mäßig, vielen Metallern war die Sicherheit des Arbeitsplatzes wichtiger, als weniger zu arbeiten. Auch aufgrund von Kabalen an der Spitze kassierte die stolze Gewerkschaft ihre krasseste Niederlage: Der damalige Gewerkschaftschef Klaus Zwickel brach den Arbeitskampf überraschend ab und versuchte anschließend das Desaster im Osten seinem Vize Jürgen Peters anzulasten, um den als Nachfolger zu verhindern.

Auch das ging schief. Zwickel trat zurück, Peters wurde IG-Metall-Chef, und manche Ost-Metaller fühlten sich verraten oder zumindest im Stich gelassen.

Christiane Benner ist die erste Frau an der Spitze der IG Metall.

© Georg Wendt/dpa

Die historische Niederlage steckt vielen Beschäftigten ebenso in den Knochen wie der Strukturbruch der 1990er Jahre, der bis heute Folgen zeitigt: Verlängerte Werkbänke, die in Krisenzeiten vergleichsweise schnell abgeräumt werden können, stehen im Osten.

Entscheidungen über Standorte und Arbeitsplätze treffen die Konzernzentralen im Westen – nicht selten zulasten des Ostens; aufgrund der schmalen gewerkschaftlichen Basis droht dort wenig Widerstand.

„Die Herausforderungen im Osten Deutschlands sind groß, aber wir sind als IG Metall überzeugt: Die Chancen sind größer“, sagt Christiane Benner im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Die Verfügbarkeit erneuerbarer Energien, Spitzenforschung in Wissenschaftsclustern sowie gut ausgebildete Beschäftigte nennt Benner als Stärken der Region.

9000
Beschäftigte arbeiten noch für VW in Zwickau.

„Die Autoindustrie im Ganzen ist gerade in schwierigem Fahrwasser, davon sind ost- und westdeutsche Standorte betroffen“, meint die Spitzenmetallerin – doch nicht immer im gleichen Ausmaß.

Das VW-Werk in Zwickau ist mit 9000 Beschäftigten nach Tesla im brandenburgischen Grünheide die zweitgrößte Autofabrik Ostdeutschlands. Zwickau war der erste Standort im weltweiten Konzernverbund, der von VW auf die Produktion von Elektroautos umgestellt wurde; 2020 lief hier das letzte Verbrennerfahrzeug vom Band. Mit der elektrischen ID.-Reihe begann die Zukunft von VW in Sachsen.

Verlagerung von West nach Ost

Ende 2024 war die Zukunft schon wieder vorbei. VW-Management und IG Metall verständigten sich auf ein Sanierungsprogramm für die deutschen Werke. In Zwickau produzierte Modelle werden künftig von den Kollegen in Wolfsburg und Emden gebaut; von 2027 an fertigen die Sachsen nur noch ein elektrisches Audi-SUV. Die Belegschaft schrumpft erheblich.

„Mit einer solidarischen Lösung aller deutschen VW-Standorte ist es gelungen, einen Kahlschlag zu verhindern“, kommentierte der ostdeutsche Bezirksleiter Dirk Schulze die Verlagerung der Modelle und damit der Arbeitsplätze von Sachsen nach Niedersachsen. Das war eine gewagte Einschätzung, die bei den betroffenen Metallern in Sachsen, die sich mal wieder als Opfer des Westens sahen, nicht gut ankam.

Nach einer „ruppigen Sitzung“, wie Teilnehmende den Umgang der Bevollmächtigten mit „ihrem“ Bezirksleiter schildern, machte sich Schulze im Frühjahr vom Acker und quittierte den mit rund 16.000 Euro Bruttomonatsgehalt dotierten Job.

Wieder einmal hatten die kleinen Könige, die je nach Größe der Geschäftsstelle zwischen 9000 und 11.000 Euro verdienen, einen Bezirksleiter vertrieben.

Berlin hat die größte IGM-Geschäftsstelle

Auf Düvel, der nach der Niederlage 2003 zurücktreten musste, war Olivier Höbel gefolgt – auch ein Niedersachse. Höbel hielt sich bis 2020 und damit erstaunlich lange im Amt, da er die Bevollmächtigten gewähren ließ – und so die Voraussetzungen für Eigensinn und Intrigen schuf.

Mit mehr als 30.000 Mitgliedern ist Berlin die größte Geschäftsstelle der IG Metall im Osten; entsprechend selbstbewusst tritt der Berliner Bevollmächtigte auf. Nach Berlin folgen mit Zwickau (VW), Leipzig (BMW und Porsche) und Chemnitz (VW) sächsische Geschäftsstellen. Die Sachsen blicken traditionell misstrauisch auf die Preußen, die sich wiederum gerne als die Größten gebärden.

2020 gab es eine kleine Kulturrevolution. Mit der Ost-Berlinerin Birgit Dietze übernahm erstmals eine Frau und dazu auch erstmals jemand aus dem Osten den Problembezirk. Dietze verkannte die komplizierte Situation im Bezirk, vernachlässigte das Netzwerken, ignorierte die Machtspielchen und wurde von den kleinen Königen so gemobbt, dass sie nach 20 Monaten aufgab.

Wir nehmen den Deckel hoch: Was ist los im Bezirk? Wie arbeiten die Bevollmächtigten zusammen? Wie ist das Verhältnis zur Bezirksleitung?

Christiane Benner, Vorsitzende der IG Metall, über den Bezirk im Osten

Der damalige IG-Metall-Chef Jörg Hofmann war sauer und dachte über die Zerschlagung der ostdeutschen Chaostruppe nach: Sachsen sollte zu Niedersachsen und Brandenburg zum Bezirk Küste, aber keiner wollte die Schmuddelkinder haben – also weiter wie bisher.

„Wir haben jetzt einen Prozess begonnen“, sagt Hofmanns Nachfolgerin Benner. „Wir nehmen den Deckel hoch: Was ist los im Bezirk? Wie arbeiten die Bevollmächtigten zusammen? Wie ist das Verhältnis zur Bezirksleitung?“

Insgesamt drei Tage haben die elf Bevollmächtigen in den vergangenen Wochen in einem Mediationsverfahren unter der Leitung der Zentrale zusammengesessen. Der künftige Bezirksleiter soll aus den eigenen Reihen kommen, da sind sich nach den Erfahrungen mit den Wessis alle einig.

Favorit ist der Bevollmächtigte aus Berlin, den jedoch der Kollege aus Zwickau nicht leiden kann. Also muss man dem Zwickauer die Zustimmung abkaufen: zum Beispiel, indem er irgendwo Arbeitsdirektor wird. Die IG Metall kümmert sich um ihre Funktionäre: Birgit Dietze zum Beispiel ist heute Arbeitsdirektorin und Personalvorstand bei der Salzgitter AG.

Im September beschließt der IG-Metall-Vorstand über den neuen Bezirksleiter im Osten, mit dem wieder einmal alles besser werden soll. Es wäre an der Zeit.

In den Betrieben brennt die Luft, Konjunkturkrise und Transformation gefährden allerorten Arbeitsplätze und fordern die IG Metall wie noch nie. Vor 30 Jahren hatte die IG Metall rund vier Millionen Mitglieder, in diesem Jahr fällt die Zahl vermutlich erstmals unter zwei Millionen. Es ist eine riesige Aufgabe, den Trend zu stoppen. Christiane Benner hat ganz andere Probleme als den Osten.

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