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Wer will, kann von zu Hause aus arbeiten und einkaufen.

© Getty Images

Online einkaufen, streamen, chatten: Bald ein Volk von 80 Millionen Couch-Potatoes?

Vom Sofa aus shoppen und kommunizieren, daheim arbeiten und das Essen bestellen: Das sind die Folgen der digitalen Möglichkeiten für Wirtschaft und Gesellschaft.

Nicht zum Büro pendeln, wo permanent jemand stört. Kein Lebensmitteleinkauf am Abend, bei dem im Regal ausgerechnet das fehlt, was dringend gebraucht wird. Wer will, kann vielen Nervmomenten heutzutage entgehen, indem er zu Hause bleibt. Dort kann er arbeiten, einkaufen, die Liebe finden. Alles, was man will, ist einen Wisch entfernt. Ist doch im Internet verfügbar. Am besten sofort. Warten ist aus der Zeit gefallen.

Dass sich das soziale Leben mehr und mehr in die eigenen vier Wände verlagert, wird immer mal wieder anders bezeichnet. Im 19. Jahrhundert wurde die Spanne vom Ende des Wiener Kongresses 1815 bis zum Beginn der bürgerlichen Revolution 1848 in den Ländern des Deutschen Bundes zum Beispiel als Biedermeier bezeichnet. Draußen der Straßenkampf, die Revolution. Drinnen die behagliche, heile Welt.

In den späten 1980er Jahren sprach die US-amerikanische Trendforscherin Faith Popcorn dann erstmals vom Cocooning. Wieder ging es um die Tendenz, sich aus der Zivilgesellschaft ins Private zurückzuziehen. Gerade heißt es „Homing“, dass das Wohnzimmer zum Lebensmittelpunkt wird. Und dann ist da noch der nicht enden wollende Hygge-Trend. Abgeguckt in Dänemark, soll es daheim in Wollsocken kuschelig-gemütlich sein.

Soziologen deuten all diese Tendenzen als Reaktion auf eine unruhige, bedrohlich wirkende Realität. Jeden Tag lesen und hören die Menschen von Kriegen, Konflikten und der Klimakrise. Hinzu kommt, dass die Technik das Leben immer schneller macht. Ständig blinkt das Smartphone. Nichtstun geht nicht. Zu viel Stress haben ist ein Massensymptom. Aus diesem Grund wird seit einigen Jahren von Achtsamkeit gesprochen: Sei nur im Hier und jetzt! Sag doch mal Termine ab! Nimm dir Auszeiten, nur für dich.

Die Digitalisierung macht es schließlich möglich, per App alles Mögliche nach Hause zu ordern. Youtube-Videos ersetzen den Kurs im Fitnessstudio bei Regen. Amazon springt für den Edeka um die Ecke genauso ein wie für das kleine Kino. In der Konsequenz heißt das aber auch, dass der öffentliche Raum – mit all seinen sozialen Funktionen – weniger genutzt wird. Und hat man sich dann auf der Couch in die Decke gemummelt, liest man die Nachrichten auf dem Handy: Vom Bäcker, der schließt. Und der zunehmenden Vereinsamung.

Diese fünf Beispiele zeigen, wie sehr sich Lebenswelten verändern:

1. Der Handel: Einkaufen gehen? Gibt doch Amazon

Eine Folge des Online-Shoppings sind die vielen Pakete und Retouren.
Eine Folge des Online-Shoppings sind die vielen Pakete und Retouren.

© dpa

Die Innenstädte verenden! Zumindest warnt der Handelsverband Deutschland (HDE) davor. In vielen Einkaufsstraßen fehlen Käuferinnen und Käufer. Mäntel, Schuhe, Rasierer haben sie schon längst im Internet bestellt. Inzwischen bedroht diese Entwicklung die deutschen Läden so sehr, dass der HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth dem Bundesinnenminister Horst Seehofer persönlich einen Brandbrief geschrieben hat.

„Wo der Handel stirbt, sterben Stadtzentren und Dorfgemeinschaften“, warnt Genth. Nach Berechnungen des Kölner Instituts für Handelsforschung (IFH) sei die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte in den vergangenen fünf Jahren um rund 29.000 zurückgegangen. Die Mehrheit der Händler beklage zu wenig Kundschaft. Je ländlicher sie leben, desto schlimmer. Dabei sei die Zufriedenheit der Menschen dort groß, wo es schöne, lebendige Straßen gebe, keine leer stehenden Häuser. Ältere Menschen leben mitunter ganz allein. Gibt es dann keine Post mehr, keine Bank, keinen Fleischer, fehlt ihnen jegliches Gespräch. Die Jüngeren langweilen sich und ziehen nach Hamburg und Berlin.

Noch verbucht der Handel insgesamt Gewinne. 2019 stieg der Umsatz preisbereinigt um 2,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der Online-Versandhandel war jedoch abermals der größte Treiber. Er wuchs in den vergangenen elf Monaten um 7,4 Prozent. Einen enormen Anteil daran hat Amazon, der mit seiner schnellen Lieferung zur bequemen Alternative geworden ist. Ansonsten wäre da immer noch die Fahrt zum Geschäft. Vielleicht gibt es nichts, das gefällt, oder die passende Größe fehlt. Online passiert all das nicht. Der Tausch Ware gegen Geld klappt so schnell, so mühelos, dass er kaum auffällt.

Auf die Paketzusteller hat dieser moderne Akt des Einkaufens spürbare Auswirkungen. Allein in Deutschland werden jedes Jahr drei Milliarden Päckchen und Pakete zum Kunden nach Hause geschickt – und oft zurück. Kostet ja meist nichts. In Zukunft dürfte auch die Tüte mit Lebensmitteln immer häufiger vor Wohnungstüren stehen. Wächst der Onlinehandel aber weiter wie bisher, droht laut dem HDE bis 2020 jedem zehnten Geschäft die Schließung. Das wären 50 000 Läden im ganzen Land, die es bald nicht mehr gibt.

2. Die Filmwelt: Das Kino glaubt, zu überleben

Im Kino kann man nicht einfach umschalten.
Im Kino kann man nicht einfach umschalten.

© Caro / Eckelt

Die deutschen Kinos haben 2019 ein gutes Geschäft gemacht: Anders als im Jahr zuvor kamen mehr Besucher. Der Umsatz stieg um knapp 15 Prozent, teilte der Hauptverband Deutscher Filmtheater kürzlich mit. Dennoch hätten sich mit 22 Millionen verkauften Tickets für deutsche Filme die Erwartungen der Branche nicht ganz erfüllt. Sei es drum. Ist das Aussterben des Kinos doch noch abgewendet worden?

Christine Berg ist Vorsitzende des Hauptverbandes Deutscher Filmtheater. Dass immer mehr Menschen Filme vom Sofa aus streamen, Abos bei Netflix oder Amazon abschließen, gehe nicht spurlos an ihrer Branche vorüber.

Laut dem „Freizeitmonitor 2019“ lieben es die Bundesbürger seit jeher, sich vom Fernseher berieseln zu lassen. Nichts machen sie lieber, wenn die Arbeit getan ist. Mehr als jeder Fünfte schaut mittlerweile aber auch – oder stattdessen – regelmäßig Serien und Filme über Streaming-Anbieter. Wie groß die Marktmacht ist, zeigt zum Beispiel der oscarnominierte Film „The Irishman“ von Martin Scorsese. Scorsese hatte Probleme, die Summe für seinen Film zusammenzubekommen. Eingesprungen ist dann ausgerechnet Netflix. Nach nur wenigen Wochen im Kino lief der Film deswegen schon auf der Plattform.

Christine Berg glaubt dennoch an die Kraft des Kinos. „Es hat auch schon den Fernseher und Video überlebt.“ Außerdem beobachte sie eine Sehnsucht der Menschen nach Entschleunigung, die Kinos erfüllen würden. Flugmodus anschalten, zwei Stunden das Smartphone weg legen, mal für eine Weile nur auf eine Sache konzentrieren. Vermutlich, sagt sie, wird sich ein Gegentrend zum netflixen entwickeln.

„Wir wollen doch keine Gesellschaft, in der jeder allein zu Hause sitzt“, sagt Berg. „Das wird doch irgendwann langweilig.“ Und nicht nur das. Kinos seien aus ihrer Sicht Kulturorte. Gefallen die ersten zehn Minuten eines Films auf Amazon Prime nicht, wird eben der Nächste begonnen. „Im Kino muss ich bei einem Thema dran bleiben. Ich kann mich nicht entziehen, selbst wenn es kaum auszuhalten ist“, sagt die Lobbyistin der großen Leinwand. Das Kino erzwinge Auseinandersetzung.

3. Essverhalten: Vor allem Jüngere bestellen gerne

Wieso essen gehen, wenn man sich eine Pizza bestellen kann.
Wieso essen gehen, wenn man sich eine Pizza bestellen kann.

© imago/Westend61

Wie oft gehen die Deutschen auswärts essen? Daten von Statista zeigen, dass sie 2018 etwas weniger im Restaurant aßen als im Jahr zuvor und öfter Gerichte zu sich nach Hause bestellten. Aktuellere Zahlen liegen nicht vor. Noch muss die Gastronomie deswegen nicht panisch werden. Drei von vier Deutschen gehen laut dem letzten Ernährungsreport der Bundesregierung mindestens einmal pro Monat essen. Knapp jeder Fünfte macht das mindestens einmal in der Woche. „Die Umsatzzahlen in der Gastronomie sind positiv“, sagt Ingrid Hartges, Hauptgeschäftsführung des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (DEHOGA). Allerdings stiegen die Kosten. Und der Wettbewerbsdruck – unter anderem durch Lieferdienste – nehme zu.

Vor allem jüngere Kunden ordern ihre Mahlzeiten immer öfter per App. „Es ist doch aber wichtig, dass die Menschen vor die Tür gehen, aufeinander treffen, diskutieren“, mahnt Ingrid Hartges. „Lokale, Bars und Restaurants sind die öffentlichen Wohnzimmer der Gesellschaft.“ Wer stattdessen nur noch allein zu Hause sitze, Serien streame und sich beliefern lasse, vereinsame doch, sagt sie.

Was Ingrid Hartges noch umtreibt, sind sogenannte Ghost Kitchen. In den USA setzen immer mehr Start-ups und Investoren darauf. Das Prinzip: Lokalen wird angeboten, ihr Lieferessen zu günstigeren Mieten fernab ihrer Restaurants vorzubereiten. Zum Beispiel in Lagerhallen. Sogar McDonald’s hat im November seine erste Geisterküche in Großbritannien eröffnet. Dort werden ausschließlich Burger und Pommes produziert, die von Firmen wie Uber Eats zu den Adressen der Kunden gebracht werden. Amazon mischt bei dem Geschäft schon mit. In Deutschland kommen die „virtuellen Restaurants“, in denen es keine Kellner, Tische und Stühle mehr gibt, erst langsam in Mode. Noch.

Analysten der Schweizer Großbank UBS schätzen, dass sich der globale Markt für Lieferessen von derzeit rund 35 Milliarden Dollar (umgerechnet 31 Milliarden Euro) in den kommenden zehn Jahren auf 350 Milliarden Dollar verzehnfachen wird. „Wir glauben, dass 2030 die meisten Mahlzeiten, die derzeit zu Hause gekocht werden, geordert werden – von Restaurants oder zentralen Küchen“, schreiben die Analysten in einer Studie.

4. Arbeit: Und was, wenn der Chef mich vergisst?

Mitarbeiter sind im Homeoffice zufriedener - und erschöpfter.
Mitarbeiter sind im Homeoffice zufriedener - und erschöpfter.

© imago images/Westend61

Kein Verkehrsstau, kein Lärm. Der Tag im Homeoffice kann so angenehm sein. Trotzdem ist die Frage, ob die Arbeit von zu Hause eher nützt oder schadet, umstritten. Einerseits sagen Mitarbeiter in Umfragen, dass sie am Küchentisch zufriedener und produktiver sind. Die Pendelei entfällt. Das Privatleben ist besser zu organisieren. Wer nachdenkt und gern im Stillen arbeitet, kann das vielleicht nicht auf Knopfdruck acht Stunden lang im Großraumbüro tun.

Andererseits zeigen Studien, dass Homeoffice oft dazu führt, deutlich länger zu arbeiten, schlechter zu schlafen und erschöpfter zu sein. Kinder klagen, weil nicht mit ihnen gespielt wird. Abends und am Wochenende wird noch mal eine Mail beantwortet, weil die klare Grenze zwischen Beruf und Privat fehlt. Manche Mitarbeiter fürchten, dass sie bei der Auswahl für Weiterbildungen, spannende Projekte, den lang ersehnten Posten leichter übersehen werden, weil sie nicht präsent genug sind. Anderen fehlt der kreative Austausch, die Eingebundenheit in einem Team. Mal Ruhe zu haben, ist schön. Aber jeden Tag nur mit sich allein sein?

Das Arbeitsministerium erwägt derzeit einen gesetzlichen Anspruch auf mobile Arbeit, etwa für Homeoffice. Zwar sind die Gewerkschaften im Prinzip dafür – solange im Sinne der Beschäftigten gedacht wird. Verdi-Chef Frank Werneke warnt aber auch davor, Arbeit zu Hause zu idealisieren. „Ich zweifle daran, dass ein Homeoffice-Arbeitsplatz immer so idyllisch ist, wie es manchmal skizziert wird“, sagt er. „Vielfach wird dies gewählt, weil es zu pflegende Angehörige oder Kinder mit Betreuungsbedarf gibt – das ständige Wechseln zwischen Aufträgen des Arbeitgebers und Fürsorge für andere Menschen hat auch seine Schattenseiten.“ Außerdem wünscht sich nicht jeder das Büro in den eigenen vier Wänden, die sich dadurch gar nicht mehr so eigen anfühlen.

5. Liebesleben: Small Talk in einer Bar, wie anstrengend

Allein auf der Basis eines Fotos entscheidet der Nutzer: kennenlernen oder weg damit.
Allein auf der Basis eines Fotos entscheidet der Nutzer: kennenlernen oder weg damit.

© dpa

Die Stiftung für Zukunftsfragen veröffentlicht Jahr für Jahr den „Freizeit-Monitor“. Der letzte Report zeigt unter anderem, wie sich die liebsten Tätigkeiten der Deutschen seit 1957 verändert haben. Damals lasen sie am liebsten Zeitung, pflegten den Garten, gingen einkaufen. In den 60er Jahren waren sie gerne im Theater, ruhten sich aus, besuchten Freunde. Was von damals bis heute immer unwichtiger geworden ist, sind direkte, soziale Beziehungen. Stattdessen dominieren Tätigkeiten mit Medienbezug immer mehr die Freizeit. Fernsehen, das Internet nutzen, Nachrichten schreiben – im letzten Jahr nahmen diese Tätigkeiten in der Top-Ten-Liste sieben Plätze ein.

Weiter heißt es: 17 Prozent der Deutschen treffen sich mindestens einmal in der Woche persönlich mit Freunden. Dreimal so viele halten den Kontakt über soziale Netzwerke auf ihrem Smartphone in der Hand. Hinzu kommt, dass sich die Befragten 2019 etwas lieber zu Hause verabredeten als im Jahr zuvor. Warum das so ist, wird nicht erklärt.

Wer noch keinen Menschen an seiner Seite hat, sucht ihn immer öfter online. Bequem vom Sofa aus, nicht in der Bar, wo anstrengender Small-Talk notwendig ist. Algorithmen berechnen, was Romantiker intuitiv erleben wollen. Durch Stimme und Ausstrahlung. Forscher von der Stanford University meinen sogar: Heute ist das Chatten im Netz die häufigste Kennenlernform. Laut einer ihrer Analysen lernen sich 40 Prozent der Paare in den USA im digitalen Raum kennen. Vorher fand die Mehrheit ihren Partner über die Familie oder Freunde.

Auch in Deutschland ist das Internet zum Kuppler geworden. Das Geschäft boomt. Fast die Hälfte der Bundesbürger hat Online-Dating laut Umfragen mal ausprobiert. Eine bekannte Plattform dafür ist Parship. „Liebe kann nicht nach einer Formel gefunden werden“, sagte Hugo Schmale, der den Parship-Fragebogen entwickelt hat, dem Tagesspiegel. Eine Formel könne aber helfen, leichter zur Liebe zu kommen.

Der App Tinder wird vorgeworfen, die Liebe als Konsumgut zu betrachten. Zu zerstören. Allein auf der Basis eines Fotos entscheidet der Nutzer: kennenlernen oder weg damit. Dem „Spiegel“ sagte Tinder-Europachef Lennart Schirmer, die Generation Z finde „die Vorstellung, jemanden anzusprechen, den sie nicht kennt, offenbar komisch.“ Apps wie Tinder sollen Unverbindlichkeit schaffen. Stimme das? „Auf Tinder gibt es die Möglichkeit, den Kontakt abzubrechen, ohne Erklärung. Warum auch nicht? Im Geschäftsleben bekomme ich auch ständig etwas angeboten und traue mich, es abzulehnen.“ In diesem Jahr will nun auch Facebook eine Dating-App starten.

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