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Wie viel Ungleichheit verträgt das Land?: DGB-Konferenz diskutiert Verteilungsfragen

Die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich ist eine Herausforderung für die Demokratie. Gewerkschaftschefin Fahimi betont die Bedeutung der sozialen Infrastruktur.

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In diesem Herbst, in dem auch die Unterschicht einen Milliardär zum US-Präsidenten gewählt hat und Deutschland sich auf eine neue Regierung vorbereitet, diskutiert der DGB ein Thema, das Erklärungen verspricht für den Erfolg von Populisten und den Trend zur Polarisierung. „Verteilungskonflikte: Herausforderungen für die Demokratie“, lautete das Motto des Herbstforums der gewerkschaftlichen Böckler-Stiftung.

Die zweitägige Konferenz in Berlin problematisierte nicht allein die materiellen Umstände, also die zunehmende Spreizung von Einkommen und Vermögen. Teilhabe und Chancengerechtigkeit sowie die Gefahr, dass Ausgegrenzte oder Abgehängte sich vom demokratischen System abwenden, gehören vielmehr vorrangig in den Verteilungsdiskurs.

„Das größte Problem“, findet der Münchener Soziologen Fabian Pfeffer, sei das „Ausspielen“ gesellschaftlicher Gruppen gegeneinander: „Benachteiligte gegen Benachteiligte und die Mitte gegen Benachteiligte“, zuletzt anschaulich geworden in der Auseinandersetzung über das Bürgergeld.

Fahimis Grundlagen einer gerechten Gesellschaft

„Skandalös“ nennt das die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi, weil weniger als ein Prozent der Bürgergeldempfänger die Sozialleistung missbrauchten. Über den Schaden der Tarifflucht von Unternehmen, Fahimi nannte 130 Milliarden Euro, die unter anderem durch geringe Steuern und Sozialabgaben zustande kämen, rege sich kaum jemand auf.

Fahimi spannte einen weiten Bogen und knüpfte dabei eine Verbindung zur Bundespolitik. Faire Löhne, stabile Sozialsysteme sowie funktionierende Bildungs- und Betreuungseinrichtung, bezahlbare Wohnungen, Kulturangebote und ärztliche Versorgung gehören für die DGB-Vorsitzende zu den Grundlagen einer gerechten Gesellschaft. Hier habe der Staat seine Leistungsfähigkeit zu beweisen – und mithin die Demokratie ihre Funktionalität.

Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, findet die Debatte über das Bürgergeld „skandalös“.

© dpa/Annette Riedl

Wenn jedoch der Aufwand für die soziale Infrastruktur „ausgespielt“ werde gegen den Aufwand für dringend erforderliche Investitionen, „dann fliegt uns der Laden um die Ohren“, meinte Fahimi und stellte sich mit ihrer Schlussfolgerung an die Seite des Bundeskanzlers Olaf Scholz: „Die Schuldenbremse reformieren.“ Auch Fahimi ist Sozialdemokratin und amtierte 2014-2015 als Generalsekretärin der SPD.

Reicher Mann und armer Mann standen da und sah´n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.

Bertolt Brecht

Nur die Starken können sich einen schwachen Staat leisten. Dieser sozialpolitische Allgemeinplatz ist ähnlich originell wie der Umstand, dass Armut und Reichtum gleichzeitig zunehmen. Der Soziologe Pfeffer zitierte Bertolt Brecht. „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah´n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

In der vergangenen Woche hatte das wissenschaftliche Institut der Böckler Stiftung einen Verteilungsbericht veröffentlicht. Danach lebten 2010 noch 14,5 Prozent der Bevölkerung in Armut (wenn weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung stehen) und 2022 bereits 16,7 Prozent. Besonders häufig betroffen sind Frauen, Ostdeutsche und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte.

Armut und Einkommensungleichheit erreichten Höchststände und verunsicherten zunehmend die untere Mittelschicht, konstatiert die Böckler-Stiftung. Profiteure sind populistische Parteien. Die Distanz zum gewohnten politischen System sei umso größer, je geringer das Einkommen ist und je größer die Sorge um Arbeitsplatz und Lebensstandard.

Anteil der Armen hat sich verdoppelt

Laut Charlotte Bartels von der Uni Leipzig besitzen die obersten zehn Prozent hierzulande 60 Prozent des Vermögens. Auf der anderen Seite der Skala steht die „untere“ Hälfte der Bevölkerung mit einem Anteil von drei Prozent. Dieser Anteil sei auch deshalb rückläufig, weil die Armut sich von 1992 bis 2021 verdoppelt habe.

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Prozent der Bevölkerung besitzen 60 Prozent des Vermögens

Die Vermögenskonzentration wiederum – ein Prozent der Bundesbürger besitzt knapp 30 Prozent des Vermögens – „ist in Deutschland so hoch wie nirgendwo sonst in Europa“, sagte Bartels. Noch krasser seien die Verhältnisse in den USA, wo Donald Trump und Elon Musk die Demokratie in eine Plutokratie verwandeln möchten.

„Der ärmeren Hälfte helfen, Vermögen aufzubauen“, ist für Bartels der kürzeste Weg in einer solidarischen Gesellschaft zu mehr Verteilungsgerechtigkeit. Die Mittelschicht müsste sich mit unteren sozialen Schichten gegen die oberen Klassen solidarisieren, ergänzte Olaf Groh-Samberg, vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt an der Universität Bremen.

„Die unteren Milieus können die Kraft zur Mobilisierung allein nicht aufbringen“, sagt Groh-Samberg. Positiv sei deshalb „eine gewisse Solidaritätsbereitschaft, bei jenen, denen es gut geht“. Nach Einschätzung des Sozialwissenschaftlers gibt es diese Bereitschaft in Deutschland.

Solidarität kostet Geld, das unter anderem über die Erbschaft- und Vermögenssteuer eingenommen werden könnte. Rund die Hälfte der Bevölkerung erbt, und das Stopfen einiger Lücken in der Erbschaftsteuer brächte nach Gewerkschaftsberechnungen sieben Milliarden Euro. Die Wiedereinführung der Vermögensteuer, die 1997 abgeschafft worden war, erhöhte den staatlichen Spielraum sogar um bis zu 30 Milliarden Euro.

„Jedes vierte Kind kann nicht richtig lesen und schreiben“, kritisierte die DGB-Vorsitzende Fahimi das Bildungssystem. Lebensqualität und Chancengerechtigkeit seien nicht möglich unter den Bedingungen einer maroden sozialen Infrastruktur. „Der Fachkräftemangel im Bildungs- und Gesundheitssystem und steigende Wohnkosten sorgen dafür, dass ein für alle gleicher Zugang zu ganz grundlegenden Elementen der (öffentlichen) Daseinsvorsorge nicht mehr gesichert ist“, konstatiert die Böckler-Stiftung.

Wir stehen vor harten Auseinandersetzungen.

Yasmin Fahimi, Vorsitzende des DGB

Fahimi hat das Frühjahr und die nächste Bundesregierung im Blick: „Wir stehen vor harten Auseinandersetzungen.“ Die demokratischen Parteien und ein möglicher Bundeskanzler Friedrich Merz, der vor der Rückkehr in die Politik beim Vermögensverwalter Blackrock Millionen verdient hatte, sollten auf eine höhere Verteilungsgerechtigkeit hinarbeiten, da sich derzeit „die Sorgen in die Mittelschicht hineinfressen“, wie Fahimi formulierte. Mit positiven Effekten für AfD und BSW.

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