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Gemälde im Stil des Historismus.

© Bismarck-Museum, Friedrichsruh

150 Jahre Reichsverfassung Bismarcks: „Ein Nationalstaat, der tiefste Brüche überlebt hat“

Jürgen Kocka spricht im Interview über das „weite Feld“ des deutschen Kaiserreichs – von der Sozialgesetzgebung bis zur Wiedervereinigung von 1990.

Am 16. April 1871 trat die Reichsverfassung Bismarcks in Kraft. Der Historiker Jürgen Kocka spricht im Interview über die Geschichte Preußens und des Kaiserreichs, der Demokratisierung, über unser Verhältnis zur Nation und aktuelle Tendenzen der Geschichtsschreibung. Das Interview führte der Historiker Yves Müller, Doktorand an der Universität Hamburg und Promotionsstipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Herr Kocka, das Berliner Reichstagsgebäude wurde – was der Öffentlichkeit heute kaum noch bewusst ist – als Reichstag des 1871 begründeten deutschen Kaiserreiches gebaut, hier wurden die erste deutsche Sozialgesetzgebung und der Föderalismus „erfunden“. Liegt in dem historischen Ort des Kaiserreiches der Ursprung unserer Demokratie?
Nein. Wer nach den Ursprüngen der Demokratie in Deutschland sucht, muss auf die radikalen Handwerksgesellen, Politiker und Literaten des Vormärz blicken, die sich zum Beispiel auf dem Hambacher Fest 1832 trafen, auf die Revolution von 1848/49, obwohl sie besiegt wurde, auf den Aufstieg der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung seitdem, auch auf die starke Tradition früh entwickelter Selbstverwaltung in den deutschen Städten. Der nächste große Demokratisierungsschub kam mit der Revolution von 1918/19 und der Weimarer Republik.

Und auf welcher Klaviatur spielte Otto von Bismarck?
Die Reichsverfassung von 1871 war ein Kompromiss zwischen preußischer Machtpolitik, den Interessen der deutschen Einzelstaaten und der bürgerlich geprägten liberalen Bewegung. Aber da war auch – früher als anderswo – das allgemeine gleiche Männerwahlrecht, das der Reichskanzler für den Reichstag durchgesetzt hatte, um der starken liberalen Partei das Wasser abzugraben. Dies war ein Stück Demokratisierung, das die Bevölkerung politisierte und etwa den fulminanten Aufstieg der SPD als Massenpartei in den folgenden Jahrzehnten ermöglichte.

Ein Porträtbild von Jürgen Kocka.
Jürgen Kocka war Professor an der Freien Universität Berlin und Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin.

© promo

Auch war das Kaiserreich gesellschaftlich und kulturell viel moderner als lange dargestellt. Die staatliche Sozialversicherung war eine bahnbrechende Innovation, als Mittel zur inneren Stabilisierung des Reiches von Bismarck geplant. Aber der Reichstag war zwar relativ demokratisch gewählt, jedoch ausgesprochen schwach, er konnte die Regierung weder einsetzen noch kontrollieren oder abwählen.

[Das Interview erscheint in Kooperation mit dem Portal zeitgeschichte-online.de – dort zeitgleich und in einer längeren Fassung. Auf dem Portal des Potsdamer Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), das von Wissenschaftler:innen des ZZF und der Humboldt-Universität betreut wird, bildet das Interview den Auftakt zu einem Themenschwerpunkt zur Erinnerungs- und Rezeptionsgeschichte Preußens und des Kaiserreichs.]

Es gab eine mächtige Erste Kammer, den Bundesrat, durch den starke Einzelstaaten wie Preußen und Sachsen viel Einfluss ausübten; sie aber verteidigten ihr extrem ungleiches Wahlrecht mit Zähnen und Klauen gegen alle Proteste. Der Föderalismus war damals keine Stütze der Demokratie, im Gegenteil. Auch nach den Maßstäben der Zeit war das Kaiserreich ein autoritäres System, ein Obrigkeitsstaat mit viel Adelsmacht, starker Bürokratie und Militarismus.

Letztlich kommt man aus dem Fremdeln mit dem Kaiserreich nicht heraus, so scheint es. Wie würden Sie das Verhältnis zum ersten deutschen Nationalstaat beschreiben?
Ich war auch erstaunt, wie wenig öffentliche Aufmerksamkeit zuletzt dem 150. Jahrestag der Gründung des deutschen Nationalstaats im Januar 1871 geschenkt wurde. In jener Zeit selbst gab es kein Ereignis, das die Emotionen der Deutschen stärker bewegt hätte. Sehr viele feierten Bismarck als den größten Staatsmann des Jahrhunderts.

1914, bei Beginn des Ersten Weltkriegs, zeigte sich, dass dieser nur gut vier Jahrzehnte alte Nationalstaat breite und elementare Zustimmung errungen hatte. Erst in den letzten Jahrzehnten haben wir uns daran gewöhnt, das Kaiserreich als etwas sehr Fremdes zu empfinden, das uns nur wenig angeht.

Wie kam es dazu?
Für diese Entfremdung in der Erinnerung sind der verhängnisvolle Missbrauch und damit die tiefe Diskreditierung von Nationalbewusstsein und Nationalismus durch den Nationalsozialismus mitverantwortlich; wohl auch die Erfahrung von vier Jahrzehnten Teilung, die gelehrt hat, dass man auch ohne Nationalstaat zivilisiert leben kann; vor allem aber die gründliche Demokratisierung unserer eigenen Normen, Praktiken und Gewohnheiten.

Daran gemessen erscheinen uns die Strukturen, die Selbstdarstellung, die Symbolik des Kaiserreichs als ungeheuer fremd. Man sehe sich nur einmal Anton von Werners berühmtes Gemälde von der Kaiserproklamation im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles am 18. Januar 1871 unter diesem Gesichtspunkt an: die Selbstdarstellung des neuen Reichs als Fürstenbund mit vielen Uniformen und militärischem Zeremoniell, fast ohne Zivilpersonen, durchweg nur Männer, das Staatsvolk ganz abwesend.

Aber Vorsicht vor schnellen Urteilen, immerhin hat dieser Nationalstaat die tiefsten Brüche und 150 Jahre überlebt. In stark veränderter und reduzierter Gestalt existiert er noch heute. In den letzten drei Jahrzehnten wurde klar, dass der Nationalstaat nirgends zum alten Eisen der Geschichte gehört.

Hedwig Richter kritisiert, dass die „Exotisierung“ des Kaiserreichs den Blick verstellt hat.
Man muss akzeptieren, dass das Kaiserreich beides war: ein autoritärer Militär- und Beamtenstaat, der aggressive Kolonialpolitik betrieb und extremen Nationalismus züchtete, bis in den großen Krieg hinein; zugleich aber das Gehäuse für wirtschaftlichen Aufstieg und Überwindung der Armut, für raschen gesellschaftlichen und kulturellen Wandel, für Aufbruch und Emanzipation.

Eine Bismarck-Statue wurde mit roter Farbe bespritzt.
Farbanschlag auf die Statue Otto von Bismarcks im Schleepark in Hamburg-Altona im Juni 2020.

© Foto: Jonas Klüter/dpa

Die neuere Forschung hat viel Neues über den zweiten Aspekt herausgefunden und verliert dabei manchmal den ersten aus dem Blick. Dabei ist das konfliktreiche Zusammenspiel der beiden Seiten des Kaiserreichs aus heutiger Sicht das eigentlich Spannende. Sie standen nämlich nicht nur gegeneinander, sondern sie beförderten sich auch gegenseitig. Diese irritierende Einsicht darf man nicht verdrängen. Keine der beiden Seiten darf zugunsten der anderen nivelliert werden.

Wird hier aber lediglich die alte Debatte um den deutschen „Sonderweg“ wieder aufgeführt?
Wer als Historiker nach einem deutschen Sonderweg in die Moderne fahndete, versuchte damit langfristig wirksame Faktoren zu identifizieren, die in Deutschland anders als bei seinen westlichen Nachbarn existierten und dazu beitrugen, dass Deutschland in der großen Wirtschafts- und Politikkrise der Zwischenkriegszeit zu einer besonders radikalen totalitären faschistischen Diktatur pervertierte.

Viele dieser Faktoren wurden von der vergleichenden Forschung der letzten Jahrzehnte widerlegt, so etwa die Annahme, dass in Deutschland die „Feudalisierung“ des Großbürgertums besonders ausgeprägt gewesen sei; in Wirklichkeit war die Verschmelzung bürgerlicher und adliger Eliten in Frankreich und England noch ausgeprägter als bei uns. Die methodischen Prämissen der Sonderwegsthese wurden zu Recht kritisiert.

Und der Kolonialismus?
Es ist zu begrüßen, dass der Kolonialismus des Kaiserreichs in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft intensiv behandelt wird, viel mehr als noch vor einigen Jahrzehnten. Die derzeitigen Debatten über Rassismus und über die Rückgabe von archäologischen und kunsthistorischen Museumsstücken an die Herkunftsländer, die als Kolonien unterworfen und ausgebeutet waren, sichert dem Thema auch in der Öffentlichkeit einige Aufmerksamkeit. Es dürfte den ohnehin verzwickten Ausbau des Humboldt-Forums im neu aufgebauten Hohenzollernschloss weiter belasten.

[Lesen Sie zum Restitutions-Streit auch unsere Rezension des neuen Buchs von Bénédicte Savoy über "Afrikas Kampf um seine Kunst" (Tagespiegel Plus): Ein Donnerschlag]

Sehen Sie weitere neue Erkenntnisse in der aktuellen Forschung?
Ja, durchaus, zum Beispiel in der Geschlechtergeschichte und in der Untersuchung kulturhistorischer Entwicklungen, vor allem auch bei den vielversprechenden Versuchen, die Geschichte des Kaiserreichs aus globalgeschichtlicher Sicht neu einzuordnen. Die Erkenntnisinteressen haben sich verschoben.

Heute dominieren andere Sorgen – über die Klimakrise und die mögliche menschliche Selbstzerstörung im Anthropozän – und andere Fragestellungen, eher im kulturhistorischen Umkreis, oder durch postkoloniale und identitätspolitische In-Themen geleitet. Da tritt die bohrende Frage nach den langfristigen Ursachen oder Bedingungen des deutschen Wegs in die nationalsozialistische Katastrophe ein Stück weit in den Hintergrund.

[Zur Rolle der Wissenschaft in der Klimakrise hat sich Jürgen Kocka in einer Tagesspiegel-Debatte geäußert: Forscher, werdet nicht zu Propagandisten! Auf seinen Beitrag reagiert hat unter anderem Jutta Allmendinger: Sagt was, Kollegen]

Ich sehe das als Teil des generationellen Wandels und als verständliche Antwort auf den sich wandelnden Zeitgeist – aber doch auch als Verlust. Nicht immer sind die neuesten Bücher über ein wichtiges Thema besser als die alten. Weiterhin erscheint mir eine umfassende Würdigung des Kaiserreichs als defizitär, wenn sie nicht reflektiert, dass keine anderthalb Jahrzehnte nach seinem Ende eine extrem undemokratische, illiberale, menschenverachtende Diktatur an die Macht kam.

Gibt es also eine Kontinuitätslinie von 1870/71 nach 1933, die auf der unheilvollen Allianz von Moderne und Reaktion fußt?
Vieles aus dem Kaiserreich lebte zwar weiter und es gab diese belastende Kontinuität. Aber sie determinierte nicht das spätere Scheitern der Weimarer Republik. Anderes kam hinzu, so der Weltkrieg und die deutsche Niederlage. Auch danach hätte die Entwicklung noch ganz anders verlaufen können, selbst noch im Krisenjahr 1932.

Blick über die Spree zum Humboldt-Forum.
Die Baustelle des Freiheits- und Einheitsdenkmals vor dem nachgebauten Berliner Schloss mit dem Humboldt-Forum.

© Christoph Soeder/dpa

Bleiben wir bei Kontinuitäten. Wie beurteilen Sie die Einheit von 1990 in Verbindung mit der Einheit von 1871?
Das wiedervereinigte Deutschland von 1990 unterscheidet sich vom Deutschen Reich von 1871 diametral, nicht nur sozial und verfassungspolitisch. Während das Bismarckreich – wie die meisten Nationalstaaten – nicht ohne blutige Kriege entstand und die daraus resultierende Feindschaft mit Frankreich als belastende Bürde mit sich schleppen musste, gelang die Wiedervereinigung 1990 auf friedliche Weise und mit prinzipieller Zustimmung aller Nachbarn.

Also kein Zusammenhang?
Doch, in grundsätzlicher Hinsicht wurde die Einigungspolitik von 1870/71 durch die Vereinigung von 1989/90 bestätigt. Die Idee des 120 Jahre zuvor gegründeten Nationalstaats hatte zwei Kriege, die Katastrophe des Nationalsozialismus und 40 Jahre Teilung überlebt. Jetzt bewies sie ihre fortbestehende Kraft. Der Nationalstaat existiert weiter, wenn auch in neuen Grenzen, mit anderer politischer Substanz und eingebettet in einen europäischen Zusammenhang, der dem Kaiserreich fehlte.

Die Gefahr einer mit der AfD erstarkten Rechten, aber ebenso mit neurechten Thinktanks, die den hellen Schein deutscher (Herrschafts-)Geschichte hervorheben wollen, ist aber ebenso wenig zu übersehen. Sie ist marginal, aber wir sollten alles dafür tun, dass sie es auch bleibt.

Yves Müller

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