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Weißlicht.... Kerzen sind manchmal recht lang. Wie lang es sie schon gibt, weiß man nicht genau, nur, dass sie im Einsatz stets kürzer werden.

© Photographycourse

Leuchtmittel im Gletscher, Licht in der Dunkelheit: Das Wachs der Weltgeschichte

Kerzen sind symbolhaft und praktisch zugleich. Aber auch rätselhaft. Und eine zählt zu den interessantesten archäologischen Funden 2021.

Im Sommer 2021 fanden Archäologen in Norwegen einen Koffer. Einen sehr alten, aus Holz und gut verschlossen. Ein klimaerwärmungsbedingt schmelzender Gletscher unweit von Bergen hatte ihn freigegeben. Laut Datierungen im Labor mittels der Radiokarbonmethode könnte er aus dem 15. oder 16. Jahrhundert stammen. Sein überraschender Inhalt auch: Als die Forschenden den Kasten aus Kiefernholz öffneten, fanden sie eine große Bienenwachskerze – beziehungsweise deren krümelige, aber eindeutig identifizierbare Überreste.

Welches Drama sich auf dem Lendbreen-Eisschild vor einem halben Jahrhundert zugetragen haben mag, warum ein Wanderer etwas vom Wertvollsten, was er dabeihatte, dort zurückließ, ob es ihn möglicherweise selbst das Leben kostete, wird man nie erfahren. Die Kerze jedenfalls hatte einen hohen Wert – nicht symbolisch, sondern sehr praktisch.

Von Kerzenkoffer bis Kofferkerze

Das können norwegische Historiker mit einiger Sicherheit sagen, denn vergleichbare, aber viel, viel jüngerer Objekte kennt man dort längst. Sie waren für Jäger, aber auch für Viehhalter, die den Sommer mit ihren Tieren in höheren Lagen verbrachten und sie im Herbst wieder ins Tal trieben, die einzige Lichtquelle in der Dunkelheit. Entsprechend geschützt wurden sie auf den Wanderungen verpackt – so gut, dass der Bio-Brennstoff hunderte Jahre im Eis überstand.

Auch der Koffer selbst war ein Hochqualitätsprodukt. Als man ihn fand, war er so dicht verschlossen wie an dem Tag, als ihm die Kerze zum letzten Mal anvertraut wurde.

Von Romantik bis Trauer

Die Kerzen der Gegenwart werden zumindest hierzulande eher aus symbolischen oder Gemütlichkeitsgründen entzündet. Dabei deckt ihre Symbolik ein ungewöhnlich breites Spektrum ab, von der Erinnerung an Verstorbene und der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode über die Zahl der Flammen auf der Geburtstagstorte und ihr Auspusten bis hin zur romantischen Bedeutung etwa eines Candlelight Dinners.

Kerzen – vor allem weiße – symbolisieren auch schlicht das Gute und die Hoffnung an sich, literarisch vielfach verewigt unter anderem durch William Shakespeare. Im „Kaufmann von Venedig“ etwa schreibt er: „Wie weit die kleine Kerze Schimmer wirft! So scheint die gute Tat in arger Welt.“

Lampentasche. Koffer mit Kerze aus dem norwegischen Eis.
Lampentasche. Koffer mit Kerze aus dem norwegischen Eis.

© Glacier Archaeology Program

Zu Weihnachten stehen Kerzen und ihre Flammen sowohl christlich für das göttliche Licht als auch aus heidnischer Überlieferung stammend für den Kampf gegen die Mächte der Dunkelheit und die Hoffnung auf das sich gerade durch die Wintersonnenwende ankündigende neue Jahr. Ungewolltes Erlöschen einer Kerze allerdings wird dagegen oft als schlechtes Omen gedeutet.

In Redewendungen kommt Kerzensymbolik auch wertend vor – auch hier ausnahmsweise teils in negativem Sinne. Wem etwa gesagt wird, er oder sie sei „kein großes Licht“ oder – im Englischen sehr verbreitet – könne im Vergleich zu jemand anderem „not hold a candle“, wird jedenfalls nicht so erfreut sein.

Von Tantra bis Stechmücke

Zu den wichtigsten Kunden der Kerzenbranche, etwa 180 000 Tonnen pro Jahr in Deutschland verkauft – mehr als die Hälfte davon importiert – zählen nach wie vor die christlichen Kirchen. An Umsatz zulegen konnten in den letzten Jahren eigentlich nur Duftkerzen, die sich angeblich von Yoga über Tantra bis zum Vertreiben von Ungeziefer bewähren.

Aus praktischen Gründen werden Kerzen hierzulande höchstens noch für eventuelle Stromausfälle oder – wenn man Mitglied der „Prepper“-Bewegung ist – in Erwartung größerer möglicher gesamtgesellschaftlich-ökonomischer Desaster bevorratet. Weltweit allerdings gibt es nach wie vor Millionen von Haushalten ohne Stromanschluss.

Laut Weltbank sind etwa eine Milliarde Menschen betroffen. In diesen Behausungen erhellt zum Teil nach wie vor Kerzenlicht – das für die meist armen Bewohner ziemlich ins Geld gehen kann – die Räume ein wenig.

Von Pfeilen bis Pferdeäppeln

Der Kerzenfund am Lendbreen-Gletscher ist eine von vielen Entdeckungen der letzten Jahre dort. Sie gehen von gut erhaltenen Textilien über gut erhaltene Skier und Pfeile bis zu gut erhaltenen Uralt-Pferde-Schneeschuhen – und Uralt-Pferdeäppeln. Die Archäologen des regionalen „Glacier Archaeology Program“ verdanken all das eindeutig den Folgen des Klimawandels. Der macht nicht nur wärmere Sommer, sondern auch wärmere Herbste und Winter. Das wiederum hat Folgen für die Kerzenindustrie der Gegenwart.

Der Geschäftsführer des Europäischen Kerzenherstellerverbandes, Stefan Thomann, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland vor zwei Jahren, einen warmen Herbst spürten Hersteller und Handel am Umsatz „sofort“.

Für diejenigen, die dann weniger Kerzen anzünden, hat das wahrscheinlich nicht nur Nachteile. Denn Ruß, Feinstaub und unvollständig verbrannte andere organische Stoffe sind nicht unbedingt gesund. In einer Studie in Taiwan, wo in buddhistischen und taoistischen Tempeln neben Kerzen auch Räucherstäbchen und symbolisches Papiergeld verbrannt wird, fanden die Forschenden besorgniserregende Konzentrationen polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe in der Luft.

Von Feststoff bis Gas

Und auch schon ein paar Kerzen in einem geschlossenen Raum haben hier deutliche Auswirkungen. Aneta Wiertzbicka von der Universität Lund sagte der New York Times vor ein paar Monaten, in Nichtraucherhaushalten gehörten Kerzen zu den wichtigsten Quellen für Luftverschmutzung durch kleine Partikel.

Diese Daten helfen aber auch bei der Vorbereitung auf eine jeden Winter wieder neu über Kinderlippen kommende Frage: „Wohin verschwindet eigentlich die Kerze?“ Die Antwort ist gar nicht so einfach. So brennt zum Beispiel nicht das Wachs selbst, sondern es muss durch die Hitze der Flamme erst einmal verflüssigt werden, im Docht aufsteigen und dort dann bei noch mehr Hitze in den gasförmigen Aggregatzustand wechseln. In der idealen Kerze, deren Wachs und Docht 100prozentig aus Kohlenwasserstoffen bestehen und deren Flamme optimal mit Sauerstoff aus der Luft versorgt wird, wird alles zu ungefährlichem Kohlendioxid und Wasser.

Die Kerze verschwindet also in die Luft, jeder im Raum atmet etwas von ihr ein, und die chemische Reaktion setzt Wärmeenergie und Lichtstrahlen frei.

Von Rußflamme bis Rußschicht

In einer realen Kerze aber verbrennt etwas Wachs eben nicht vollständig – und wird zu Ruß. Dazu kommen mögliche Verunreinigungen im Wachs sowie oft auch Farbstoffe, die ebenfalls oftmals Moleküle enthalten, die zumindest über längere Zeit in hohen Konzentrationen eingeatmet nicht so gesund sind.

Wer auf die Lichter nicht verzichten, aber wenig davon einatmen will, kann Methoden nutzen, die seit knapp zwei Jahren gut eingeübt sein sollten: Viel lüften etwa. Auch Masken und Luftreiniger sollen helfen – wobei das natürlich auch Teil einer weltweiten, von Bill Gates angeführten Verschwörung sein könnte.

Wissenschaftlich belegt ist allerdings, dass sich teilweise über Jahrhunderte Schicht für Schicht ansammelnder Kerzenruß vor allem in Sakralbauten den Kunstwerken dort massiv zugesetzt hat. Werden diese sachgerecht restauriert, können sich solche Kohlenwasserstoff-Schmutz-Filme aber auch als regelrechte Schutzschichten erweisen, nach deren Entfernung ein Bild wieder farbenprächtiger erstrahlen kann als eines, dass jahrhundertelang gut belüftet – aber auch gut belichtet – wurde.

Von Wachs bis Walrat

Zu Weihnachten 2021 jedenfalls werden die Kerzen brennen wie immer. Denn sie sind – anders als die anderen, deutlich lauteren feurigen Jahresend-Symbole – auch in Zeiten von Corona-Weihnachten nicht verboten. Zudem werden sie, unter anderem auf Anregung des Bundespräsidenten, als Erinnerung an die Verstorbenen der Pandemie seit April in viele Fenster gestellt.

Eine Kerze brennt in einem Fenster als Zeichen des gemeinsamen Gedenkens im Rahmen der Aktion "#lichtfenster" für die Toten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Der Bundespräsident ermunterte die Bevölkerung, vom Freitag an ein Licht in ihre Fenster zu stellen und auch ein Bild davon mit dem Hashtag #lichtfenster in den sozialen Medien zu teilen.
Eine Kerze brennt in einem Fenster als Zeichen des gemeinsamen Gedenkens im Rahmen der Aktion "#lichtfenster" für die Toten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Der Bundespräsident ermunterte die Bevölkerung, vom Freitag an ein Licht in ihre Fenster zu stellen und auch ein Bild davon mit dem Hashtag #lichtfenster in den sozialen Medien zu teilen.

© picture alliance / dpa

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Wie weit zurück ihre Geschichte reicht, weiß niemand. Denn Dochte, Wachs und auch andere traditionelle Kerzenbrennstoffe wie etwa das „Walrat“ aus den Köpfen von Pottwalen sowie Talg oder von Pflanzen und Insekten produzierte wachsähnliche Substanzen, sind nun einmal sehr gut biologisch abbaubar.

Und selten bewahrten die Menschen früherer Jahrhunderte und Jahrtausende ihre Leuchtmittel so gut verschlossen auf und übergaben sie dann auch noch einem natürlichen Tiefkühlschrank wie jener, der vor einem halben Jahrhundert seinen Koffer auf einem Gletscher liegen ließ.

Zudem ist natürlich die Frage, wie man „Kerze“ überhaupt definiert. In Fett oder Harz getränkte Pflanzenfaserbündel wurden im heutigen Nahen Osten wohl schon vor über 5000 Jahren angezündet. Und zumindest Hinweise, dass Menschen Dochte in Fettschalen als Lichtquelle oder für kultige Zwecke benutzt haben könnten, gibt es schon aus Funden, die Jahrzehntausende älter sind.

Von Kerzen bis zu Zahnprothesen

Aber Wachskerzen ähnlich denen, die der Koffer vom Gletscher preisgab und die wir heute verwenden? Historiker und Archäologen können darauf mit gutem Gewissen keine Antwort geben. Patente wurden vor tausenden von Jahren noch nicht angemeldet. Schon in seinem inzwischen über 60 Jahre alten Buch über die „Ingenieure der Antike“ schreibt Lyon Sprague de Camp, die Etrusker seien wohl die Erfinder der Kerzen im engeren Sinne gewesen. Zeugnis davon geben klar als Kerzenständer erkennbare Funde aus Siedlungen jenes Vorgänger-Volkes der Römer und Latiner im heutigen Italien.

Darauf aber geht Sprague de Camp gar nicht ein, sondern fügt unvermittelt an, die Etrusker seien auch die ersten gewesen, die Zahnprothesen herstellten. Was das mit einander zu tun haben könnte, darüber kann man ja vielleicht an einem der stillen Tage in einer stillen Stunde bei Kerzenlicht einmal sinnieren.

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